Krisen der Repräsentation
Im Mittelalter, da war die Sache noch relativ klar. Der König hat zwei Körper: einen natürlichen, menschlichen, sterblichen und einen symbolischen, kollektiv-religiösen, der ewig währt.14 Der König ist tot, es lebe der König! Im Absolutismus gab es dann nur noch einen Körper, der Monarch war identisch mit dem Staat – »L’état c’est moi« (»Der Staat bin ich!«) – und brauchte keinen Gott mehr für seine Legitimation. Komplizierter wurde es, als die Revolutionen in Nordamerika und Frankreich plötzlich das Volk zum Souverän machten. Denn wo alle die Macht haben, kann kein Einzelner sie mehr verkörpern: Der Ort der Macht muss leer bleiben.15 Nicht nur, dass die politisch Herrschenden nun keine eigene Gewalt mehr haben – die Macht, die sie auf Zeit stellvertretend ausüben, gehört zudem einem immer heterogener werdenden Volk. Eine unmögliche Aufgabe: etwas zu repräsentieren, das nicht repräsentiert werden kann. So ist Demokratie nie etwas Festes, sie bleibt immer »im Kommen«, wie der Philosoph Jacques Derrida schreibt.16
Krisen der Repräsentation ziehen sich also zwangsläufig durch die Moderne – in der Politik, aber auch in der Kunst: Erst wollten sich Malerei und Skulptur nicht mehr auf die Aufgabe reiner Abbildung reduzieren lassen, dann brachte Marcel Duchamp mit dem readymade Alltagsgegenstände ins Museum, die zunächst nichts anderes zu repräsentieren schienen als sich selbst. Seit den 1960ern versuchten performance art und happenings der Repräsentation zu entkommen, indem sie den Fokus ganz auf die Präsenz, die Gegenwärtigkeit der Situation legten, die sie selbst erzeugten. Und institutional critique richtete den Blick vor allem auf die strukturellen, organisatorischen und ökonomischen Bedingungen von Repräsentation.
Auch im Theater tobte der Kampf gegen hergebrachte Vorstellungen von Repräsentation mit Antonin Artaud und Bertolt Brecht als prominentesten Protagonisten auf gegensätzlichen Seiten: Während der eine dafür kämpfte, die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem ganz aufzuheben und Kunst und Leben eins werden zu lassen, wollte der andere sie transformieren, transparent machen und zugleich jene einbeziehen, die künstlerisch wie politisch nicht ausreichend repräsentiert wurden. Dabei wird deutlich, dass Brechts Konzept des gestischen Spiels – also des verweisenden Zeigens – nicht nur ein ästhetisches ist: So wie in der Demokratie die Macht nicht mehr verkörpert, sondern zu einer Geste wird, die auf den eigentlichen Souverän verweist,17 so soll immer erkennbar bleiben, dass die Stellvertretung der Bühnenfigur durch den Schauspieler rein symbolisch ist. Es ist ein Zeigegestus, der in der Demokratie wie im Theater zugleich auf die Unmöglichkeit der Repräsentation wie auch die Unmöglichkeit einer Nicht-Repräsentation verweist. Die beiden Bedeutungen, die Repräsentation im Deutschen hat – die des Darstellens und die des Stellvertretens –, sind nicht voneinander zu trennen.
Regietheater und frühes postdramatisches Theater
Es war vor allem das progressive Theater der 1970er- und 80er-Jahre, das in Europa ein paradigmatisches Bild geprägt hat, das vielen bis heute als geradezu synonym für politische Kunst überhaupt gilt. Tatsächlich waren die Bühnen damals (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise in West und Ost) ein durchaus relevanter Faktor vieler gesellschaftlicher Debatten. In einer Zeit, in der die gegensätzlichen Ideologien noch wirkmächtig und die Trennung zwischen den Blöcken klar markiert war, engagierte sich das Theater in einer Vielzahl politischer Anliegen, indem es das Elend der Welt repräsentierte – vom Vietnamkrieg über Apartheid in Südafrika bis hin zu den alltäglichen Widrigkeiten einer lokalen Arbeiterfamilie. Während im Osten die subversive Kraft oft in versteckten oder kodierten Botschaften lag, waren im Westen offene Provokationen ein wichtiger Teil des Repertoires: türenschlagende ZuschauerInnen, die unter Protest den Saal verließen, gehörten zum Alltag. Ob mit neuen Stücken oder konsequent modernisierten Klassikern: radikale Interpretationen der aufzuführenden Texte waren wesentliches Merkmal eines Regietheaters, das allerdings im Großen und Ganzen trotz seiner vielen neuen Ansätze meist einem – wie sehr auch immer abstrahierten – mimetischen Spiel verhaftet blieb. Auch wenn es dem politischen Theater dieser Zeit oft gelang, jenseits direkter Betroffenheit ein Bewusstsein für die systemischen Gründe hinter den dargestellten Missständen zu erzeugen, konnte es doch meist dem Dilemma nicht entkommen, dass seine Repräsentationen lediglich symbolische Wiederholungen genau jener Übel waren, die es eigentlich bekämpfen wollte. Brecht nannte dieses Phänomen schon in den frühen 1930er-Jahren »Menschenfresserdramatik«: »Der physischen Ausbeutung des Armen folgte die psychische. Doppelte Ministergehälter wurden den Mimen ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten […].«18 Die bemitleidete Figur erzeugt Gefühle der Trauer, Betroffenheit, Schuld oder gar Wut bei den ZuschauerInnen, die aller Wahrscheinlichkeit nach – zumindest strukturell – daran beteiligt sind, genau dieses System der Ausbeutung am Leben zu erhalten.
Letztlich setzt das Theater damit bis heute oft nur fort, was Brecht in seinem Kleinen Organon für das Theater analysiert hat: »Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflußbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum).«19 Nicht nur das Stück auf der Bühne, sondern das gesamte theatrale Setup (ganz zu schweigen von den Hierarchien in der Institution selbst) reproduziert lediglich das System, das es kritisieren will. In den Worten des Theatermachers René Pollesch:
[Schauspielerinnen müssen] den Sexismus, der in der Gesellschaft herrscht, auf der Bühne reproduzieren […], legitimiert durch den Dramenkanon, der keine Frauenfiguren kennt, wo bei den Räubern die Amalie kurz mal reinschneit und in heutigen Inszenierungen immer noch ein kleines, dünnes Kleidchen verpasst kriegt, um für ein bisschen Erotik zu sorgen, und dann wieder rausgeht, und nichts zu sagen hat …20
In Opposition zu einer solchen Repräsentationspraxis entstand vor allem seit den 1990er-Jahren ein Theater, das vorherrschende Modelle nicht nur reformieren, sondern – außerhalb etablierter Theaterstrukturen – grundlegend revolutionieren wollte. Postdramatisches Theater, devised theatre, live arts, Performancetheater, freies Theater – es gibt viele Labels für dieses Genre, das wegen der Mannigfaltigkeit seiner Formen und Überlappungen mit anderen künstlerischen Disziplinen meist nicht leicht zu definieren ist. Mehr noch als die Skepsis gegenüber der dominanten Rolle des Textes, dem Inszenierungen im dramatischen Theater fast immer nachgeordnet sind, stand die Kritik am Gebrauch mimetischer Repräsentation im Mittelpunkt dieser neuen Ästhetiken und Arbeitsweisen. Autorenregisseure wie John Jesurun oder René Pollesch und Kollektive wie Gob Squad oder She She Pop lehnten es als vermessen ab, über andere zu reden, über deren Probleme, Schuld und Leid. Stattdessen wandten sie den Blick auf sich selbst, ihre popkulturelle Umwelt und auf das Theater als Medium. Es galt, wie es im damals viel zitierten Roman Generation X von Douglas Coupland heißt: »Entweder entstehen aus unserem Leben Geschichten, oder es gibt einfach keinen Weg hindurch.«21
Das Theater als Ort, als Verabredung, aber auch als Maschinerie wurde sichtbar gemacht, während auf der Bühne, offensiv subjektiv, die eigene kleine Umgebung einer globalisierten, urbanen, kreativen, semi-prekären Mittelschicht verhandelt wurde, die damals noch im Entstehen war und sich selbst erst definieren musste. Der sehr politische Impuls, die Reflexion bei sich selbst beginnen zu lassen, birgt allerdings die Gefahr, das eigene Wohnzimmer mit der Welt zu verwechseln, wie es die britisch-deutsche Gruppe Gob Squad Jahre später selbstkritisch mit der Arbeit Western Society (2013) auf den Punkt bringt. Zwar wird auch hier, wie gewohnt, das Leben der eigenen bubble auf die Bühne gebracht – doch der Titel gibt den Rahmen vor, durch den ein ironisch-nostalgischer Blick auf eine weiße, westliche Gesellschaft geworfen wird, die es so schon längst nicht mehr gibt, vielleicht nie gab. Wie durch ein verkehrtherum gehaltenes Teleskop erscheint das Nahe plötzlich ganz weit entfernt.
Einen anderen Weg im Umgang mit der Repräsentationsfalle des dramatischen Theaters wählte eine Reihe von TheatermacherInnen seit den 2000er-Jahren, indem sie sich verstärkt dokumentarischen Formaten zuwandten und die Bühne für