Einleitung
Die Soziale Diagnostik als Lehre des Diagnostizierens beinhaltet Verfahren der Situationsanalyse (s. u.), über die Soziale Diagnosen differenziert zu entwickeln sind (vgl. ausführlich Stimmer und Ansen 2016, S. 131–143).
Die Basis für Situationsanalysen in der Sozialen Arbeit bildet fast immer ein über das Erstgespräch (
Ziel der Situationsanalyse ist es zunächst, ein möglichst konkretes, realitätsgerechtes und gegenwartsbezogenes Bild der Situation der Klienten aus deren Sicht zu entwerfen, dies allerdings unter kritischer Würdigung und konstruktiver Fragestellung durch die Professionellen. Dabei sind zwei Aspekte gleichwertig zu beachten, die Frage nach den Konflikten und Risiken und die Frage nach den Kompetenzen und Ressourcen in einem strukturierten und mehrperspektivischen Vorgehen, das Lebensstil- und Lebensweltelemente und ihre gesellschaftlichen Bezüge (
Eine Situationsanalyse kann auch ergeben, dass etwas anderes gefragt ist, als die Soziale Arbeit zu leisten vermag. Müller (1993, S. 28 ff.) hat in diesem Zusammenhang zwei »Falltypen« unterschieden: erstens den »Fall von« (Alkoholabhängigkeit, Eingliederungshilfe nach § 54 SGB XII …) und den »Fall für« (den Arzt, die Sozialpädagogin …). Wenn in eine Suchtberatungsstelle ein Mann kommt, der seit zwei Jahren übermäßig Alkohol trinkt, der seinen Führerschein deswegen schon verloren hat und dem die Frau mit Scheidung droht, wenn er nicht mit dem Trinken aufhört, kann das ein Fall von Alkoholmissbrauch mit drohendem Kontrollverlust sein und es kann ein Fall für die beratende Sozialpädagogin sein, wenn sich herausstellt, dass er das Trinken erst mit einem für ihn extrem kränkenden Arbeitsplatzverlust begonnen hat. Dann lassen sich, ausgehend von dem vermutlich auslösenden Faktor »Arbeitslosigkeit«, sozialpädagogisch relevante Pläne mit dem Klienten formulieren und über Handlungsleitende Konzepte Sozialer Arbeit verfolgen (stützende Besuche einer Selbsthilfegruppe für Alkoholabhängige, Zugang zu einer Arbeitsloseninitiative, Hilfen bei der Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten des Arbeitsamtes). Wenn sich aber bei dem gleichen Klienten zeigt, dass der Beginn seines übermäßigen Alkoholkonsums mit Potenzstörungen und den damit verbundenen Selbstwertkränkungen zusammenhängt und wenn gleichzeitig deutlich wird, dass der Klient seit längerem zuckerkrank ist und Medikamente gegen einen zu hohen Blutdruck einnimmt, ist es wahrscheinlicher ein Fall für einen Urologen, der mit dem Klienten bezüglich des vermutlich auslösenden Faktors »körperlich bedingte Potenzstörung« eine erfolgversprechende medikamentöse Therapie durchführen kann. Eine unterstützende Begleitung bezüglich des Alkoholmissbrauchs ist dann eventuell auch angebracht, sie alleine ist aber kontraindiziert. In beiden Varianten zeigt sich ein weit verbreitetes Phänomen, dass nämlich hinter einem vordergründigen Fall von X sich meist ein hintergründiger Fall von Y verbirgt oder auch, dass das präsentierte Problem nicht immer das eigentliche, durch die Schamschranke geschützte Problem ist. Oft wird der hintergründige Fall von Y aber erst im Sinne der zirkulären Problemlösung (
Manchmal ergibt die Situationsanalyse auch, dass Nicht-Intervention angezeigt ist und in ihr sich die Lösung abzeichnet. Bei Kindern und Jugendlichen kommt es bezüglich devianten Verhaltens, z. B. Drogenkonsum oder Ladendiebstähle, nicht selten vor, dass dies altersspezifische Übergangsphänomene sind, wo eine Überreaktion von Eltern und Professionellen erst ernste Probleme schafft. Der Begriff des Maturing-out bezeichnet dieses Phänomen, wenn Jugendliche »von allein« konfliktträchtige Verhaltensweisen wieder aufgeben. Dahinter stehen meist Veränderungen in der Lebenswelt, die diese Verhaltensweisen inadäquat und uninteressant werden lassen (Ortswechsel, neuer Freundeskreis, Liebesbeziehungen, Lehrerwechsel, beruflicher Erfolg). Es ist allerdings sehr genau zu differenzieren, ob es wirklich ein Fall für Nicht-Intervention ist oder ein Fall für die Sozialpädagogik oder eine andere Profession.
Ist es ein Fall für die Sozialpädagogik, folgt nach der obigen Typologie als dritter Typus der »Fall mit«, nämlich die Frage, was macht der Sozialpädagoge (gemeinsam) mit dem Klienten (Planung, Intervention)? Eine professionelle Situationsanalyse kann hier hilfreich sein, wenn eine Entscheidung »Intervention vs. Nicht-Intervention« manchmal auch eine schwierige Gratwanderung sein mag. Die Analyse zeigt aber immer mehrere Wege auf, so dass auch ein vorläufiger und weniger tiefgreifender Interaktionsmodus gewählt werden kann. Dann ist vielleicht eine alltagsorientierte Unterstützung etwa bei der Suche nach einem Jugendtreff oder einer Selbsthilfegruppe ausreichend und eben nicht eine Soziale Therapie (
Alle Instrumente der Situationsanalyse sind lediglich Mittel für ein strukturiertes Vorgehen im Rahmen von verständigungsorientierten Verstehensprozessen. Das methodische Vorgehen, das Gehen auf diesen Wegen der Analyse, ist daher zwar strukturiert, aber offen, auch für Überraschungen. Die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, sind jedoch zentral für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit, weil sie in das Handeln zurückfließen. Ein ungeregeltes Vorgehen entzieht sich der Überprüfbarkeit, es mag hier und da wirkungsvoll sein, allerdings jenseits professioneller Ansprüche.
In der Psychologie und der Psychotherapie liegen für Situationsanalysen ausgearbeitete Verfahren wie der Gießen-Test (GT) oder das Freiburger-Persönlichkeitsinventar (FPI) vor, in der Soziologie und Sozialpsychologie wurden eine Reihe von Verfahren zum Gruppenprozess entwickelt, wie die Interaktionsanalyse von Bales (1965) oder SYMLOG, ein System für die mehrstufige Beobachtung von Gruppen