Es war Viertel nach sechs, als wir von der Baker Street abfuhren, und es fehlten immer noch zehn Minuten zur vollen Stunde, als wir in der Serpentine Avenue eintrafen. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und es wurden gerade die Laternen angezündet, während wir vor Briony Lodge auf und ab gingen und der Ankunft seiner Bewohnerin harrten. Das Haus sah ganz so aus, wie ich es mir nach Sherlock Holmes’ bündiger Beschreibung ausgemalt hatte, doch die Örtlichkeit wirkte weniger privat, als ich vermutet hatte. Im Gegenteil, für eine schmale Straße in ruhiger Umgebung war sie auffallend belebt. In einer Ecke stand rauchend und lachend eine Gruppe schäbig gekleideter Männer, sodann waren da ein Scherenschleifer mit seinem Schleifstein, zwei Wachmänner, die mit einem Kindermädchen poussierten, und etliche gutgekleidete junge Männer, die mit Zigarren im Mund auf und ab flanierten.
»Sehen Sie«, bemerkte Holmes, als wir vor dem Haus hin und her gingen, »diese Heirat vereinfacht die Sache ziemlich. Die Fotografie wird jetzt zur zweischneidigen Waffe. Es bestehen gute Aussichten, dass sie ebenso viel dagegen hat, dass Mr. Godfrey Norton sie sieht, wie unser Klient dagegen, dass sie seiner Prinzessin unter die Augen kommt. Nun erhebt sich die Frage: Wo können wir die Fotografie auftreiben?«
»In der Tat, wo?«
»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie sie mit sich herumträgt. Sie hat Kabinettformat. Zu groß, um sie leicht in einem Damenkleid zu verbergen. Sie weiß, dass der König imstande ist, ihr auflauern und sie visitieren zu lassen. Zwei Versuche dieser Art sind bereits unternommen worden. Wir dürfen also annehmen, dass sie sie nicht mit sich herumträgt.«
»Wo dann?«
»Bei ihrem Bankier oder ihrem Anwalt. Es besteht diese doppelte Möglichkeit. Aber ich neige der Auffassung zu, bei keinem von beiden. Frauen sind von Natur aus verschwiegen, und sie bevorzugen ihre eigenen Verstecke. Weshalb sollte sie sie einem Dritten aushändigen? Ihrer eigenen Obhut kann sie vertrauen, nicht aber feststellen, welchem indirekten oder gar politischen Einfluss ein Geschäftsmann unterworfen wäre. Außerdem, denken Sie daran, dass sie entschlossen war, sich ihrer in wenigen Tagen zu bedienen. Sie muss dort sein, wo sie ihre Hand daraufhalten kann. Sie muss in ihrem eigenen Haus sein.«
»Aber da ist zweimal eingebrochen worden.«
»Pah! Die wussten nicht, wo sie nachschauen sollten.«
»Aber wie wollen Sie nachschauen?«
»Ich werde gar nicht nachschauen.«
»Wie das?«
»Ich werde sie dazu bringen, sie mir zu zeigen.«
»Aber sie wird sich weigern.«
»Sie wird dazu nicht in der Lage sein. Aber ich höre das Rumpeln von Rädern. Es ist ihr Wagen. Nun führen Sie meine Anordnungen auf den Buchstaben genau aus.«
Während er noch sprach, kam ein Wagen mit schimmernden Begrenzungslichtern um die Kurve der Allee gebogen. Es war ein schmucker kleiner Landauer, der ratternd an der Tür von Briony Lodge vorfuhr. Als er anhielt, stürzte einer der Männer, die an der Ecke herumgelungert hatten, in der Hoffnung, sich ein Kupferstück zu verdienen, nach vorn, den Schlag zu öffnen, doch wurde er von einem anderen Herumtreiber, der in derselben Absicht nach vorn gestürmt war, mit dem Ellbogen beiseite gestoßen. Ein wütender Streit brach aus, den die beiden Wachmänner, welche die Partei des einen Müßiggängers ergriffen hatten, und der Scherenschleifer, der ebenso leidenschaftlich auf der Seite des anderen stand, noch verschärften. Ein Hieb wurde ausgeteilt, und im Nu war die Dame, die ihrem Wagen entstiegen war, Mittelpunkt eines kleinen Knäuels von erhitzt kämpfenden Männern, die mit Fäusten und Stöcken wild aufeinander einschlugen. Holmes flog in die Menge, um die Dame zu schützen; aber als er sie eben erreichte, stieß er einen Schrei aus und fiel zu Boden, das Gesicht blutüberströmt. Bei seinem Sturz rannten die Wachmänner in die eine Richtung, die Herumtreiber in die andere, während eine Reihe besser gekleideter Leute, die das Handgemenge beobachtet hatten, ohne sich darin verwickeln zu lassen, herandrängten, um der Dame beizustehen und sich mit dem verletzten Mann zu befassen. Irene Adler, wie ich sie weiterhin nennen werde, war die Stufen hinaufgeeilt; aber auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen – ihre großartige Figur hob sich deutlich gegen die Lichter der Eingangshalle ab – und blickte auf die Straße zurück.
»Hat der bedauernswerte Herr sich arg weh getan?«, erkundigte sie sich.
»Er ist tot«, riefen mehrere Stimmen.
»Nein, nein, es ist noch Leben in ihm«, schrie jemand anderes. »Aber es wird aus sein mit ihm, bevor man ihn ins Hospital schaffen kann.«
»Er ist ein tapferer Kerl«, sagte eine Frau. »Sie hätten die Uhr und die Börse der Dame ergattert, wenn er nicht gewesen wäre. Es war eine Gaunerbande, und eine rohe obendrein. Ah, er atmet wieder.«
»Er darf nicht auf der Straße liegen bleiben. Dürfen wir ihn hineinbringen, Madam?«
»Gewiss doch. Bringen Sie ihn in den Salon. Dort steht eine bequeme Chaiselongue. Hier entlang, bitte.«
Langsam und feierlich wurde er ins Haus getragen und im großen Zimmer hingebettet, während ich weiterhin die Vorgänge von meinem Posten vor dem Fenster beobachtete. Die Lichter waren angegangen, aber die Jalousien waren noch nicht heruntergelassen, so dass ich Holmes ausgestreckt auf der Couch liegen sah. Ich weiß nicht, ob er in diesem Augenblick der Rolle wegen, die er spielte, von Gewissensbissen geplagt wurde, aber ich weiß, dass ich niemals zuvor in meinem Leben mich meiner selbst aufrichtiger geschämt hatte als jetzt, da ich das wunderschöne Geschöpf sah, gegen das ich mich verschworen hatte, und die Anmut und Freundlichkeit, mit der sie sich um den verletzten Mann kümmerte. Und doch wäre es schwärzester Verrat an Holmes gewesen, sich des Parts zu entledigen, den er mir anvertraut hatte. Ich verhärtete mein Herz und holte die Rauchbombe unter meinem Ulster hervor. Schließlich, dachte ich, tun wir ihr ja nichts zuleide. Wir halten sie lediglich davon ab, einen Dritten zu kränken.
Holmes hatte sich auf der Couch aufgerichtet, und ich sah ihn eine Handbewegung machen wie jemanden, dem die Luft ausgeht. Ein Stubenmädchen stürzte durch den Raum und riss das Fenster auf. Im nämlichen Augenblick sah ich, wie er die Hand hob, und auf dieses Signal hin schleuderte ich meine Bombe in das Zimmer und schlug Alarm. Kaum war das Wort über meine Lippen gekommen, als die gesamte Zuschauermenge, ob gut oder schlecht gekleidet, ob feine Herren, Pferdeknechte oder Dienstmädchen, in den allgemeinen gellenden Aufschrei »Feuer!« einfielen. Dichte Rauchwolken zogen quer durch den Raum und zum offenen Fenster hinaus. Ich sah flüchtig Gestalten umherhasten, und einen Moment später ertönte von drinnen Holmes’ Stimme, der versicherte, es handele sich um blinden Alarm. Durch die kreischende Menge mir einen Weg bahnend, entschlüpfte ich zur Straßenecke und war hocherfreut, als ich zehn Minuten danach meines Freundes Arm in dem meinen fand und wir vom Schauplatz des Aufruhrs fortgelangten. Er schritt einige Minuten lang rasch und schweigend aus, bis wir in eine der ruhigen Straßen gebogen waren, die zur Edgware Road führen.
»Sie haben gute Arbeit geleistet, Doktor«, bemerkte er. »Es hätte nicht besser kommen können. Es ist gelungen.«
»Sie haben die Fotografie?«
»Ich weiß, wo sie steckt.«
»Und wie haben Sie es herausgefunden?«
»Sie zeigte sie mir, wie ich es Ihnen vorhergesagt hatte.«
»Ich tappe immer noch im Dunkeln.«
»Ich will kein Geheimnis daraus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ganz simpel. Sie haben natürlich bemerkt, dass jedermann auf der Straße ein Komplize war. Sie waren alle für den Abend engagiert.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Dann, als der Streit entbrannte, hatte ich etwas feuchte rote Farbe auf meiner Handfläche. Ich stürzte nach vorne, schlug hin, klatschte mir mit