Er blieb etwa eine halbe Stunde im Haus, und durchs Fenster konnte ich einige Blicke auf ihn erhaschen, wie er im Wohnzimmer auf und ab schritt, aufgeregt sprach und mit den Armen fuchtelte. Von ihr konnte ich nichts sehen. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf, in noch größerer Erregung als zuvor. Als er auf die Droschke zutrat, zog er eine goldene Uhr aus der Tasche und warf einen flehentlichen Blick darauf. ›Fahr wie der Teufel‹, rief er, ›erst zu Gross & Hankey in der Regent Street und dann zur St.-Monica-Kirche in der Edgware Road. Eine halbe Guinee, wenn du es in zwanzig Minuten schaffst!‹
Und schon fuhren sie ab, und ich war gerade im Zweifel, ob ich nicht gut daran täte, ihnen zu folgen, als ein adretter kleiner Landauer die Gasse heraufkam, der Kutscher mit nur halb zugeknöpftem Mantel und fliegender Krawatte, während die Enden seines Zaumzeugs aus den Schlaufen heraushingen. Er hatte kaum haltgemacht, als sie auch schon aus der Eingangstür herausgeschossen kam und hineinsprang. Ich bekam sie in dem Augenblick nur flüchtig zu sehen, aber sie war eine liebreizende Frau mit einem Gesicht, für das ein Mann wohl sein Leben gäbe.
›Zur St.-Monica-Kirche, John‹, rief sie, ›und einen halben Sovereign, wenn du in zwanzig Minuten dort bist.‹
Die Chance war viel zu gut, um sie auszulassen, Watson. Ich war gerade am Überlegen, ob ich losrennen oder auf ihrem Landauer hinten aufsitzen sollte, als eine Droschke die Straße heraufkam. Der Kutscher sah sich den schäbigen Fahrgast zweimal an, aber ich sprang auf, ehe er etwas einwenden konnte. ›Zur St.-Monica-Kirche‹, sagte ich, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie sie in zwanzig Minuten erreichen.‹ Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf, und natürlich war klar, woher der Wind wehte.
Mein Kutscher fuhr geschwind. Ich glaube nicht, dass ich je rascher gefahren bin, doch die anderen waren schon vor uns da. Die Droschke und der Landauer standen mit dampfenden Pferden vor dem Portal, als ich eintraf. Ich zahlte den Mann aus und eilte in die Kirche. Außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Geistlichen im Chorhemd, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien, war keine Menschenseele zu erblicken. Alle drei standen in einer Gruppe beisammen vor dem Altar. Ich schlenderte das Seitenschiff entlang wie ein Müßiggänger, den es in eine Kirche verschlagen hat. Plötzlich wandten sich die Drei am Altar zu meiner Überraschung nach mir um, und Godfrey Norton kam, so schnell ihn seine Beine trugen, auf mich zugerannt.
›Gott sei Dank!‹, rief er. ›Du wirst ausreichen. Komm, komm!‹
›Was ist denn?‹, fragte ich.
›Komm, Mensch, komm! Nur noch drei Minuten Zeit, oder es wird nicht rechtens sein.‹
Ich wurde halb zum Altar gezerrt, und bevor ich wusste, wie mir geschah, fand ich mich schon Antworten murmeln, die mir ins Ohr geflüstert wurden, mich für Dinge verbürgen, von denen ich gar nichts wusste, und überhaupt bei der unauflöslichen ehelichen Verbindung von Irene Adler, Jungfrau, und Godfrey Norton, Junggeselle, assistieren. Alles war im Nu abgetan, auf der einen Seite stand der Herr und dankte mir, auf der anderen die Dame, während vor mir der Geistliche übers ganze Gesicht strahlte. Es war die lächerlichste Lage, in die ich in meinem Leben je geraten bin, und der Gedanke daran machte mich jetzt eben auch lachen. Anscheinend hatte es irgendeine Unregelmäßigkeit wegen ihrer Heiratspapiere gegeben, der Geistliche hatte sich schlichtweg geweigert, sie ohne so etwas wie einen Trauzeugen zu trauen, und der Glücksfall meines Erscheinens hatte den Bräutigam davor bewahrt, sich auf die Straße begeben und nach einem Brautführer suchen zu müssen. Die Braut schenkte mir einen Sovereign, und ich spiele mit dem Gedanken, ihn zur Erinnerung an dieses Ereignis an meiner Uhrkette zu tragen.«
»Das ist ja eine äußerst unverhoffte Wendung der Dinge«, sagte ich, »und was folgte darauf?«
»Nun, ich fand meine Pläne ernsthaft gefährdet. Es sah ganz so aus, als könne das Paar unverzüglich aufbrechen und dadurch äußerst rasche und energische Maßnahmen meinerseits erforderlich machen. An der Kirchentür jedoch trennten sie sich: Er fuhr zurück zum Temple und sie zu ihrem Haus. ›Ich werde um fünf Uhr in den Park ausfahren wie gewöhnlich‹, sagte sie, als sie ihn verließ. Das war alles, was ich hörte. Sie fuhren in verschiedene Richtungen davon, und ich ging los, meine eigenen Maßnahmen zu treffen.«
»Und die wären?«
»Etwas kalter Rinderbraten und ein Glas Bier«, erwiderte er und betätigte den Klingelzug. »Ich bin zu sehr beschäftigt gewesen, um ans Essen zu denken, und wahrscheinlich werde ich heute Abend noch beschäftigter sein. Übrigens, Doktor, werde ich Ihre Mitarbeit benötigen.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Haben Sie Skrupel, das Gesetz zu übertreten?«
»Nicht im mindesten.«
»Auch nicht, wenn Sie Gefahr laufen, festgenommen zu werden?«
»Nicht für eine gute Sache.«
»Oh, die Sache ist vortrefflich.«
»Dann bin ich Ihr Mann.«
»Dachte ich mir’s doch, dass ich mich auf Sie verlassen könnte.«
»Aber was haben Sie vor?«
»Wenn Mrs. Turner das Tablett gebracht hat, werde ich es Ihnen erläutern. Nun«, sagte er, während er sich ausgehungert dem schlichten Mahl zuwandte, das unsere Wirtin aufgetischt hatte, »ich muss während des Essens darüber sprechen, da ich nicht viel Zeit habe. Es ist jetzt fast fünf. In zwei Stunden müssen wir am Schauplatz des Geschehens sein. Miss, oder eher Madame, Irene kommt um sieben von ihrer Ausfahrt zurück. Wir müssen sie vor Briony Lodge abfangen.«
»Und was dann?«
»Das müssen Sie schon mir überlassen. Ich habe bereits in die Wege geleitet, was sich abspielen soll. Es gibt lediglich einen Punkt, auf dem ich bestehen muss. Sie dürfen sich nicht einmischen, komme, was da wolle. Verstehen Sie?«
»Soll ich mich heraushalten?«
»Sie sollen überhaupt nichts tun. Wahrscheinlich wird es eine kleine Unannehmlichkeit geben. Greifen Sie nicht ein. Sie wird damit enden, dass ich ins Haus geführt werde. Vier oder fünf Minuten später wird das Wohnzimmerfenster aufgehen. Sie sollen sich dicht vor dem geöffneten Fenster postieren.«
»Jawohl.«
»Sie sollen mich im Auge behalten, denn ich werde mich in Ihrem Blickfeld befinden.«
»Jawohl.«
»Und wenn ich meine Hand erhebe – so –, dann werden Sie etwas in den Raum hineinschleudern, das ich Ihnen gleich geben werde, und zugleich Feueralarm schlagen. Können Sie mir in etwa folgen?«
»Vollkommen.«
»Es ist nichts Furchterregendes«, sagte er, indem er eine längliche Röhre von der Form einer Zigarre aus der Tasche holte. »Es ist eine gewöhnliche Spenglerrauchbombe mit Selbstzündung – an beiden Enden ist sie mit einer Zündkapsel versehen. Ihre Aufgabe beschränkt sich hierauf. Wenn Sie Feueralarm schlagen, wird eine ganze Reihe von Leuten den Ruf aufnehmen. Sie können dann ans Ende der Straße laufen, und ich werde mich in zehn Minuten wieder zu Ihnen gesellen. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt?«
»Ich soll unparteiisch bleiben, mich in die Nähe des Fensters begeben, um Sie zu beobachten, und auf ein Zeichen hin diesen Gegenstand hineinschleudern, dann Feueralarm auslösen und an der Straßenecke auf Sie warten.«
»Genau.«
»Dann können Sie sich völlig auf mich verlassen.«
»Das ist vorzüglich. Ich glaube fast, es ist an der Zeit, dass ich mich für die neue Rolle präpariere, die ich zu spielen habe.«
Er verschwand im Schlafzimmer und kehrte nach wenigen Minuten in Gestalt eines liebenswerten und arglosen nonkonformistischen Geistlichen wieder. Sein breitkrempiger schwarzer Hut, seine sackartige Hose, sein weißes Beffchen, sein teilnahmsvolles Lächeln und der ganze Anblick spähender, wohlmeinender