DER BERG RUFT
Unser Reiseziel in den Anden verlieren wir trotz Diebstahlfiasko nicht aus den Augen. Für unseren zweiten Versuch nehmen wir aber doch lieber den öffentlichen Bus. Das ist tatsächlich bequemer, geht schneller und ist billiger. Was haben wir uns bloß dabei gedacht, selbst dorthin fahren zu wollen? Doch was geschehen ist, ist geschehen und wir wollen uns nicht mehr weiter darüber ärgern. So erreichen wir mit einer Woche Verspätung das peruanische Mekka der Bergsteiger. Die kleine Andenstadt ist auch am Ende der Hauptsaison erfüllt von durchtrainierten Gringos und Straßenkünstler-Hippies, die in löchrigen, bunten peruanischen Hosen oder mit großem Rucksack und klobigen Bergstiefeln unterwegs sind. Wir befinden uns hier am Ausgangsort für Bergtouren und Kletterausflüge bereits auf über 3000 Höhenmetern, und die meisten Touristengesichter, die uns begegnen, haben einen leicht verbrannten Teint. Wir steigen in einem Hostel ab, das als Geheimtipp gilt und gut versteckt in einer Hauseinfahrt hinter einem unbeschrifteten Tor liegt. Die Besitzerin des Hostels ist Mariella, sie verlangt nicht mehr als umgerechnet drei Euro pro Nacht von jedem Gast, was selbst für peruanische Verhältnisse extrem wenig ist. Das Haus ist immer voll. Weil viele Gäste für ein paar Tage in den Bergen unterwegs sind und dann wiederkommen, ist ihr eigenes kleines Zimmer zum Gepäckraum geworden, wo sie Nacht für Nacht einen großen Berg an Wertgegenständen bewacht. Bei ihr darf ungestraft gekifft und gefeiert werden. Mariella bleibt noch im größten Chaos völlig entspannt, obwohl sie mit diesem Hostel ganz bestimmt nicht reich geworden ist, dafür aber regelmäßig der Polizei Schmiergeld zahlen muss. Sie freut sich einfach, wenn die Gäste bei ihr eine gute Zeit verbringen, und das tun sie auch. Vor allem unzählige Franzosen, Israelis und Deutsche treffen wir hier an. Sie alle wollen nur eines: hoch hinaus, die Berge bezwingen, Touren unternehmen, die zu Hause niemals möglich wären. Hier im Hostel werden abends beim Bier Tipps ausgetauscht, Equipment untereinander verliehen und hin und wieder auch gemeinsame Ausflüge geplant. Auch wir starten schließlich eine dreitägige Tour zusammen mit einer Österreicherin, einem Australier und einem Deutschen, Steffen.
Der fanatische Alpinist erzählt mir, dass er schon bald am Ende seiner Reise steht. Er ist vor vier Monaten nach Peru gekommen, nur um Berge zu besteigen. Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen: »Willst du nicht die Leute und ihre Kultur kennenlernen? Oder dein Spanisch verbessern?« »Mein Spanisch ist zwar automatisch besser geworden, aber solange ich mich verständigen kann, ist mir das eigentlich egal. Die Kultur interessiert mich eigentlich auch nicht besonders. Ich will einfach auf ganz bestimmte Berge rauf, von denen ich gehört habe. Das sind Höhen und Schwierigkeitsgrade, die man bei uns in den Alpen nicht findet.«
Was kann ich dem noch entgegensetzen? »Gib dich der Umwelt zuliebe mit den Alpen zufrieden«? Ich muss an meinen Vater denken, für den sich ein Lebenstraum erfüllt hat, als er das Mount Everest Base Camp erreichte. Und selbst wenn Steffen wegen der Kultur und der Sprache nach Peru gereist wäre: Wären das bessere Gründe? Wie können wir so etwas überhaupt werten? Wer entscheidet, ob die Anden Teil der peruanischen Kultur sind oder nicht? Warum bin ich denn selbst gerade hier und plane Touren durch diese großen Berglandschaften? Mist. Mein erster Diskussionsversuch geht voll daneben und ich merke, dass ich mich auf solche Gespräche in Zukunft besser vorbereiten muss. Klar könnte ich Steffen noch vorhalten, dass er gerade, wenn er Gletscher so liebt, auf keinen Fall ins Flugzeug steigen dürfte. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass er dieses Argument gelten lassen würde, zu viele Ausflüchte sind momentan gang und gäbe: Da muss doch zuerst in der Energiewirtschaft etwas passieren, meine Entscheidungen verändern am Klimawandel als Ganzes sowieso nichts, diese ganze Leier. Ein Teil Wahrheit steckt darin schließlich auch. Ich kann Steffens Motive für einen so langen Flug zwar nicht nachvollziehen, finde aber keine gleichwertige Alternative, die ich ihm anbieten könnte, und kein sinnvolles Argument, das ich seiner Entscheidung entgegensetzen kann. Immerhin ist Steffen nicht für zwei oder drei Wochen hier, so wie viele andere, mit denen ich im Hostel gesprochen habe, sondern gleich für mehrere Monate. Ich verstehe immer noch nicht, wie er für die Menschen und ihre Kultur so wenig Interesse aufbringen kann, obwohl er sich so lange in ihrem Land aufhält.
»Ich habe natürlich auch viel über Peru und die Leute hier gelernt, das passiert ja automatisch, wenn ich da bin«, meint er daraufhin. Und ich frage mich: Passiert das wirklich von selbst? Kann ich mit einem Reiseführer in der Hand in den touristischsten Orten absteigen und trotzdem die Lebensrealität der Menschen kennenlernen, wenn ich nur lange genug bleibe? Ich glaube nicht daran. Im Gegenteil, es könnte sogar sein, dass der Tourist ein völlig falsches Bild von einem Land mit nach Hause nimmt. Trotzdem stimme ich Steffen in diesem Moment zu, dass er, quasi unabsichtlich, sehr viel über Peru gelernt hat. Wenn sie lange genug an einem Fleck bleiben – nicht in einem Land, sondern wirklich am selben Ort –, dann beginnen die meisten automatisch, über den Tellerrand des touristischen Angebots hinauszuschauen und nehmen wahr, wie das echte Leben läuft. Aber was ist lange genug? Zwei Wochen sind zweifellos zu wenig. Nach drei Monaten haben wir uns meistens voll eingelebt und alles fühlt sich schon ganz normal an. Gewohnheiten brauchen laut Psychologen im Durchschnitt sechsundsechzig Tage, um sich zu bilden.5 Wer also wirklich an einem fremden Ort »ankommen« möchte, der sollte zumindest zehn Wochen bleiben, ohne mit Sack und Pack schon das nächste Ziel anzusteuern. Steffen hat sein Hauptquartier nun seit zwei Monaten bei Mariella, damit hat er dieses Kriterium schon fast erfüllt. Doch das interessiert ihn herzlich wenig, er wird für die letzte Woche seiner Reise noch in den Regenwald fahren, um auch von dieser ganz anderen Natur noch etwas zu sehen. Im kommenden Jahr kann er nicht noch mal so viele Monate verreisen, dann muss er wieder mehr studieren, erklärt er mir. Trotzdem wird er dann für fünf Tage nach Norwegen fliegen, um dort waghalsige Skitouren in den Bergen zu unternehmen. Der Flug ist schon gebucht.
5 Dean, Jeremy: Making habits, breaking habits. Oneworld Publications, London 2013. S. 150
EXCHANGE STUDENTS
Nun habe ich die magische Grenze, die ich selbst festgelegt habe, erreicht: Seit zehn Wochen lebe ich in Lima. Ich habe ein paar Ausflüge in andere Ecken dieses immensen Landes gemacht, doch Lima ist nun seit mehr als zwei Monaten mein Zuhause. Für Tom ist es bereits der siebte Monat, den er hier verbringt, und dementsprechend ist für ihn das meiste schon viel länger Routine als für mich. Bevor ich angekommen bin, hat er in einer großen WG voller Austauschstudenten gelebt. Er war etwas enttäuscht, keine WG peruanischer Studenten gefunden zu haben, aber die wohnen meistens noch zu Hause oder in Wohnheimen und ziehen erst in eine Wohngemeinschaft, wenn sie zu arbeiten beginnen. Ich habe Toms alte WG und ein paar der dort Wohnenden irgendwann kennengelernt und fühlte mich sehr an meine eigenen Austauschsemester erinnert. Egal ob WG oder Studentenwohnheim, die Welt der Exchange Students ist ein eigener kleiner Mikrokosmos. Gleich vorweg: Ich werde kein schlechtes Wort über jeglichen Studierendenaustausch verlieren. Projekte wie Erasmus sind Grundsteine einer modernen, offenen Gesellschaft. Wenn ich irgendjemandem Flüge erlauben möchte, dann Austauschstudenten – zumindest jenen, die auf dem Landweg nicht an ihr Ziel gelangen können. Dank Erasmus & Co. fühlen Menschen meiner Generation sich mehr als einer Nation zugehörig, gründen internationale Familien und sprechen mehrere Sprachen fließend. Erasmus hat es mir ermöglicht, ein Semester lang in Frankreich zu leben und mich selbst und die Welt neu kennenzulernen. Ironischerweise habe ich an einem europäischen Austauschprogramm teilgenommen, flog dafür aber elf Stunden Richtung Süden: Die Kolonialgeschichte Frankreichs macht es möglich, gibt es doch mehrere französische – und damit europäische – Inseln in den Weltmeeren, weit weg von Europa.
Die Ankunft auf einer dieser Inseln war für mich zuerst ein Schock – alles war anders, alles war fremd, zum ersten Mal in meinem Leben war ich völlig allein. Ich war überfordert und heulte mich am ersten Abend in den Schlaf. Doch schon am zweiten Tag wurde ich aufgefangen, ich lernte andere Exchange Students kennen, orientierte mich auf dem Campus, alles wurde schnell einfacher. Und wie so oft