Das Hauptziel all dieser Gringos ist der Machu Picchu, eine riesengroße Inka-Ruine inmitten der Anden. Sämtliche Details zu dieser Geldmaschine lassen sich auf Wikipedia oder in jedem Reiseführer nachlesen, wesentlich ist: Alle wollen hin. Und darum ist das inzwischen ganz schön teuer, auch wenn es in Peru in Wirklichkeit fast an jeder Straßenkreuzung eine Inka-Ausgrabung zu bewundern gibt, für die sich aber kaum jemand interessiert. Jede Travel-Agency in der Stadt bietet geführte Trekkingtouren zum Machu Picchu an und jeder geschäftstüchtige Touristen-Informant erklärt dir, dass es viel zu gefährlich ist, diese Wanderung alleine anzutreten. Manche, so auch wir, versuchen es trotzdem und stellen fest, dass es problemlos möglich ist. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass wir unsere Campingausrüstung inklusive Zelt selbst tragen, auf- und abbauen und unser Essen selbst kochen. Während wir das tun, können wir bei den benachbarten Reisegruppen beobachten, wie die Gringos sich von den peruanischen Guides die Zelte aufbauen lassen, bekocht werden und tagsüber von Eseln und Pferden ihre Rucksäcke tragen lassen. Anders gesagt: Wer ohne Reisegruppe loszieht, überlegt es sich zweimal, ob er das Stativ seiner Spiegelreflexkamera einpackt. Der Besuch des Machu Picchu selbst ist eine reine Massenabfertigung, die den streitsüchtigen, verschlossenen Inkas wohl gar nicht gefallen hätte. Kein Wunder, denn täglich werden fast 3000 Personen hier durchgeschleust. Jeder Taxifahrer in Lima wird uns später fragen, ob wir den Machu Picchu besucht haben und stolz anmerken, wie beeindruckend dieser Ort sei. Die meisten gestehen im weiteren Gesprächsverlauf, dass sie selbst noch nie dort waren. Tom erzählt mir, dass für die meisten Peruanos der Besuch ihres größten Kulturerbes ein lebenslanger, kaum erfüllbarer Traum bleibt. Mir wird fast übel, wenn ich die fotografierenden Horden mit Selfiesticks betrachte, denen dieser Ort weit nicht so viel bedeutet – mich eingeschlossen – wie den vielen Menschen, die ihn wohl nie zu Gesicht bekommen werden. Auch wir warten brav, bis wir an der Reihe sind, um das klassische Foto mit der Machu-Picchu-Kulisse im Hintergrund zu machen, das ich schon tausendfach auf Facebook und in den Reiseberichten meines Vaters gesehen habe. Ich sende das Foto auch bald meinen Eltern via WhatsApp und ernte von Papa ein mit grinsendem Emoticon versehenes »Das kommt mir bekannt vor!« als Antwort. Für die meisten Backpacker in Peru ist dieser so besondere Ort nicht mehr als ein »nettes Must-see« auf ihrer Reise. Für mich ist dieser Besuch ein imposanter Einstieg in die peruanische Welt, doch es ist gewiss kein authentischer erster Eindruck. Ich fühle mich in dieser Touristenzone alles andere als nützlich. Wem bringt es irgendetwas, dass ich diese uralten Inka-Steine live gesehen habe? In Anbetracht der Lebensverhältnisse nur wenige hundert Meter von den Touristenzentren entfernt kann ich nicht glauben, dass ich etwas Gutes tue, nur weil ich mein Geld hierhertrage. Monate später werde ich Menschen, Lebensrealitäten und Wesensarten dieses Landes kennengelernt haben und den Machu Picchu nur als eines in Erinnerung behalten: als Touristenmagnet, der die Gringos von dem ablenkt, was dieses Land wirklich ausmacht.
UNSER NEUES ZUHAUSE
Als wir uns nach zwei Wochen Andentour von Toms Vater am Flughafen verabschieden und ohne ihn mit dem öffentlichen Bus nach Lima zurückkehren, bin ich nach zweiundzwanzig Stunden Fahrt und nach eineinhalb Monaten des Reisewahnsinns mehr als erleichtert, endlich, endlich in meinem neuen Zuhause anzukommen. Für peruanische Verhältnisse ist die Wohnung ein wahrer Palast, frisch renoviert, mit Balkon und gut abgesichertem Eingangstor. Tom hat sie spärlich, aber sehr liebevoll und völlig ausreichend möbliert, mit einer Mischung aus Ausgeliehenem, Gebrauchtem und Selbstgebasteltem aus Altholz und Gemüsekisten vom Markt. Was bei uns als hip gelten würde, ist hier einfach nur gesunder Menschenverstand. Stolz präsentiert Tom mir den kleinen rosa Handspiegel, den er im ansonsten spiegellosen Badezimmer für mich installiert hat. Wir finden unsere Upcycling-Regale und die schon etwas von Termiten befallenen Schränke großartig und freuen uns allgemein, dass wir in den nächsten Monaten extrem energiesparend leben werden: So wie alle in Peru haben wir einen Gasherd, Heizungen gibt es hier nicht, Warmwasser ebenso nicht. Das kalte Duschen ist etwas gewöhnungsbedürftig, vor allem bei sechzehn Grad Tagestemperatur. Wir entscheiden uns außerdem gegen die Anschaffung eines Kühlschranks – vier Monate werden wir es wohl ohne aushalten. Dafür müssen wir akzeptieren, dass es in Peru praktisch keine Mülltrennung gibt. Mit etwas Mühe und viel Nachfragen erfahren wir nach einigen Wochen, dass es eine Sammlung für Recyclingmüll gibt. Die Abholzeiten der Müllsäcke sowie das vorherrschende Trennungssystem durchschauen wir bis zum Schluss nur schwer. Lima versinkt im Plastik. Jedes Gewürzsäckchen wird nochmals in ein Plastiksäckchen verpackt, sich gegen das Einpacken oder sogar doppelte Einpacken zu wehren, ist oft mühsam oder unmöglich. Die Bea Johnsons der heilen Zero-Waste-Welt behaupten immer, verpackungsfrei einzukaufen sei total einfach. In Ländern, wo alles auf Märkten verkauft wird, noch viel leichter. Ich schäme mich also für meine Inkonsequenz, dass ich zwar versuche, früh genug »Sin bolsa, por favor« zum Verkäufer zu sagen, aber dann nicht protestiere, wenn er aus jahrelanger Gewohnheit zum Plastiksack greift. Tom tröstet mich zwinkernd: »Wir brauchen die sowieso als Müllsäcke.« Ich schaue ihn daraufhin nur strafend an. Manchmal marschiere ich ganz stolz mit einer Tupperdose zum Laden an der Ecke und lasse mir Frischkäse vom großen Laib herunterschneiden, reiche die Dose über den Tresen und bitte die Verkäuferin, den Käse dort hineinzugeben. Als ich die Dose zurückbekomme, liegt der Käse darin – in einer Plastikfolie. Mit der Zeit wird es besser, denn ich kenne die Leute, bei denen ich einkaufe, ihre Gewohnheiten und weiß, wie ich es anstellen muss, damit ich zu meiner verpackungsfreien Ware komme. Und so kapiere ich auch: Am ökologischsten und ressourcenschonendsten ist Routine. Überall, wo ich neu und fremd bin und die Alternativen noch nicht kenne, muss ich das Angebot zuerst so nutzen, wie ich es vorfinde. Nach über einem Monat in Lima erfahren Tom und ich von einem wöchentlichen Biomarkt in unserer Nähe, bei dem wir von da an regelmäßig einkaufen gehen.
Avenida Jirón Libertad Número 683, das ist unsere erste gemeinsame Wohnung. Wir genießen die Zweisamkeit, die wir lange vermisst haben. Trotzdem ist das halbe Jahr, das Tom und ich getrennt voneinander verbracht haben, wie im Flug vergangen. Mir kommt es vor, als hätte ich gerade erst gestern am Flughafen in Ottawa unter tausend Tränen von Tom Abschied genommen, und doch haben wir beide in der Zwischenzeit so vieles erlebt. Es ist meine Idee gewesen, zeitgleich einen Studienaustausch an verschiedenen Orten zu beginnen. Ich fühlte mich durch meine vielen Reisen und einen Vorsprung von zwei Lebensjahren bemüßigt, eine Grundregel aufzustellen: Die Erfahrung, allein in einem fremden Land nur unter fremden Leuten zu sein, die darf auch Tom nicht auslassen. Zu prägend, zu lebensverändernd war das für mich selbst. Der ideale Plan kristallisierte sich nach und nach heraus: Tom würde mit mir nach Kanada fliegen und den ersten Monat mit mir verbringen, um dann nach Peru weiterzureisen. Nach einem Semester würde ich nach Peru kommen und die restliche Zeit dort mit ihm verbringen. Wir dachten an all die Vorteile unseres Reisemanövers: