Ich nehme Sie dazu mit ins 16. Jahrhundert, in das Herrschaftsgebiet der Kurfürsten, in die Kurpfalz.4
Friedrich II. (Kurfürst von 1544 bis 1556) wagte es, 1545/1546 die Lehren Luthers in der Kurpfalz einzuführen. Wenig erbaut darüber war der römisch-katholische Kaiser Karl V. Schon bald begann der Monarch dieses Vorhaben zu unterdrücken.
Erst Friedrichs Nachfolger, Kurfürst Ottheinrich (1556 bis 1559) vollzog die Reformation. Auf sein Geheiß wurde die Heidelberger Universität im Geiste der Erneuerungsbewegung umgestaltet. Er ließ Klöster auflösen und gab große Buchbestände an die Universität. Und er führte die Bestände der Universität, der Stiftsbibliothek in der Heiliggeistkirche und der Schlossbibliothek der Kurfürsten von der Pfalz zur eigentlichen Bibliotheca Palatina5 zusammen. So schuf er, umringt von katholisch geprägten Fürstentümern, eine evangelische Landeshochschule und ein protestantisches Zentrum der Lehre.
Friedrich III. (1559 bis 1576), Anhänger der Calvinistischen Lehre6, ließ später von Zacharias Ursinius7, einem Schüler Calvins8, den reformierten Heidelberger Katechismus9 erarbeiten. Die „Frage 80“ darin enthielt eine Verwerfung und Provokation der Katholiken hinsichtlich der päpstlichen Messe:
Und ist also die Messe im Grunde nichts anderes als eine Verleugnung des einzigen Opfers und Leidens Jesu Christi und eine vermaledeite Abgötterei.10
Im August 1563 wurde diese neue Kirchenordnung verabschiedet. Damit wurde eine eigenständige, spezifisch kurpfälzische Variante des Reformiertentums geschaffen. Durch die Einführung des Calvinismus wurde die Kurpfalz jedoch im Heiligen Römischen Reich politisch weitgehend isoliert. Das prägte auch die Entwicklung des Heidelberger Bürgertums in einer der ältesten Universitätsstädte Europas und ist mithin ursächlich für den heute hohen Akademikeranteil unter den Berufstätigen.
Bedingt durch die vielen Reformationskonflikte der damaligen Zeit wurde die Pfalz zum Zufluchtsort für Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa, unter ihnen viele Flamen und Wallonen aus Frankreich.
Allerdings muss man sich unter der Größe einer Stadt etwas anderes vorstellen als heutzutage. Heidelberg zählte anno 1588 gerade mal 6.300 Einwohner. So wirkten sich die Zuwanderungswellen stark auf die Struktur der Stadtgesellschaft aus.
In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert werden immer wieder Versuche der zwangsweisen Rekatholisierung unternommen. Als 1648 der Krieg endete, war das Land verwüstet. Die Kurpfalz war eine der vom Krieg am schwersten betroffenen Regionen und hatte annähernd die Hälfte der Bevölkerung verloren.
Kurfürst Karl I. Ludwig11 (1649-1680) betrieb den Wiederaufbau. Als überzeugter Calvinist war er sparsam. In einer Zeit, in der religiöser Fanatismus vorherrschte, war er einer der wenigen Herrscher, die in einer Politik der religiösen Toleranz die beste Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben der Bevölkerung sahen.
Für die Wiederbesiedlung der verwüsteten Landstriche ließ er überall Siedler anwerben. Seinem Ruf folgten verfolgte Minderheiten aus ganz Europa – Verfolgte, weil sie wissbegierig, reformwillig und dadurch aufgeklärt waren.
Karl Ludwig regierte absolutistisch mit paternalistischen Zügen. Er kannte jeden und kümmerte sich um alles. Der Kurfürst lebte sein Regierungsamt. Er kontrollierte, wollte alles wissen und fuhr oft barsch dazwischen, sobald er Nachlässigkeit und Müßiggang vermutete. Dafür war er bei der einfachen Bevölkerung sehr beliebt.
Das Ende der reformierten Blutlinie
Der Niedergang des Hauses Pfalz-Simmern war jedoch ein Lehrstück dafür, nicht rechtzeitig von der Macht ablassen zu können. Das finden wir auch heute noch in vielfältiger Ausprägung, weshalb ich mich entschlossen habe, darauf etwas umfänglicher einzugehen. Und ich ahnte nicht, dass ich bei meinen Recherchen auf eine Tragödie fast griechischen Ausmaßes stoßen und mich auf einen vermutlich ungeklärten Kriminalfall einlassen würde.
Kurfürst Karl Ludwig war ein autoritärer Vater und trennte sich schon nach sieben Jahren Ehe von seiner ersten Frau Charlotte von Hessen-Cassel. Sein dieser Ehe entstammender Sohn Karl II.12 wuchs als kränklicher Knabe freudlos am Hofe des Vaters auf; sein reizbares empfindliches Gemüth wurde verschüchtert und von den Eindrücken seiner Umgebung unangenehm berührt; seine Mutter zog sich 1657 nach Cassel zurück, er blieb einsam bei Hofe, widerwillig dem Vater unbedingten Gehorsam zollend. Ohne auf seine Individualität Rücksicht zu nehmen, wurde Karl mit Gelehrsamkeit erdrückt; schrieb 1882 der deutsche Historiker Arthur Kleinschmidt über den glücklosen Kurfürstensohn.
1664 wurde der junge Gelehrte Paul Hachenberg sein Erzieher und gewann immer mehr sein Vertrauen, was wiederum Argwohn bei seinem Vater hervorrief.
Als er eine württembergische Prinzessin heirathen wollte, bestimmte ihm der Vater die ihm ganz unsympathische Tochter des Königs Friedrich III. von Dänemark, Wilhelmine Ernestine. Ihre Hoffart und Unbedeutendheit entfremdete ihn ihr mehr und mehr, die Ehe blieb kinderlos.13
Karl strebte nach Unabhängigkeit. Der Druck des Vaters und seine Lebensumstände ließen ihn immer düsterer und gar zum Menschenfeind werden.
Als 1680 die Franzosen im Oberamt14 Germersheim in die Pfalz einfielen, schickte ihn sein Vater auf diplomatische Mission zum Onkel König Karl II. nach England. Während dieses Auslandsaufenthalts verstarb am 26. August der verhasste Vater mit 62 Jahren, damit fiel Karl im Alter von 29 Jahren das Kurfürstenamt zu und er kehrte im Oktober nach Heidelberg zurück. Die Leitung der pfälzischen Politik überließ er jedoch seinem engsten Vertrauten. Seinen Erzieher, den Historiker Paul Hachenberg, ernannte er zum leitenden Minister und Oberbefehlshaber, ohne dass dieser zum Staatsmann befähigt gewesen wäre. Andere sagten ihm nach, er sei gänzlich unfähig gewesen. Jedenfalls hat er sich in den 16 Jahren bei Hofe nicht gerade beliebt gemacht.
Karl ließ zudem die Günstlinge des Vaters in Ungnade fallen. Dazu trug auch Hachenberg bei. Er holte ehemalige Höflinge, die Karl Ludwig wegen Unfähigkeit entlassen hatte, die es aber verstanden, sich bei ihm einzuschmeicheln, wieder in gut entlohnte Positionen zurück. Dieser Affront blieb wohl nicht folgenlos. Denn der viel geschmähte Hachenberg starb schon nach wenigen Wochen seiner Amtsführung sehr plötzlich.
Bei der Recherche zu seiner Person stieß ich auf ein digitalisiertes, nur schwerlich lesbares, in alter Handschrift verfasstes Traktätlein von 173515, publiziert vom Historiker Georg Christian Joannis. Nach kurzem Einlesen fesselte mich das historische Kleinod.
Es beschreibt genau diese Zeit bei Hofe, als Karl II. Kurfürst war. Joannis hatte die Originalfassung von 1693 historisch redigiert. Sie entstammte der Feder eines Johann Friederich Reiger.
Dieser war zuletzt kurfürstlicher Hofrat unter Karl Ludwig und hatte sich in dreißigjähriger Tätigkeit bei Hofe hochgedient. Ich nehme an, er hatte sich bei seinem Herrn zu einer Art grauen Eminenz entwickelt, die über alles und jeden etwas wusste.
Er war der Erste, der dem neuen Kurfürsten opportunistisch eine Liste mit Namen übergab, die künftig bei Hofe verzichtbar waren.
Der neue Kurfürst hatte aber, welch Wunder, noch eine andere Liste, auf der Reiger an erster Stelle stand. So wurde er von Karl beurlaubt. Erst schrieb er verbittert seine Geschichte in anonymen Briefen nieder. Jahre später erschien dann sein Traktätlein.
Joannis bezeichnet einige Begebenheiten daraus als aus Affekten geschrieben, dennoch konnte man diese Anwürfe mit Blick auf die private Geschichte bei Hofe nicht übergehen.
Ein heimtückischer Giftmord?
Zum Ableben Hachenbergs ist darin zu lesen: Der plötzliche Tod gab zu allerhand Muthmassungen Anlass. Reiger schrieb nieder, dass Hachenberg nach einem gewissen