Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rebecca Michéle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131354
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Luise war es ein wirklicher Glückfalls, das Elternhaus verlassen zu haben und in einer Stellung zu sein, in der sie mehr wie eine Tochter des Hauses als eine Angestellte behandelt wurde. Auch Paula lebte nicht länger zu Hause. Sie hatte endlich ihren Schulabschluss geschafft und war nach Königsberg gegangen, sehr zum Unwillen der Mutter. Auguste sah das Mädchen bereits in den schlimmsten Verhältnissen, dabei wohnte Paula bei einer Cousine von Tante Marthas verstorbenen Mann und ließ sich zur Stenotypistin ausbilden. Paula hatte eingesehen, dass sie sich nicht darauf verlassen durfte, bald geheiratet zu werden und damit versorgt zu sein. Auch Karl befand sich in Königsberg, wo er an der technischen Universität studierte.

      Untereinander eingehakt traten Hedwig und Luise auf die Straße, Hedwig noch in Gedanken an die Komödie, über die sie mehrmals laut und herzhaft gelacht hatte. Luise wollte sich gerade von ihrer Schwester verabschieden, da ihr beider Weg in verschiedene Richtungen ging, da trat ein Mann zu ihnen.

      »Hedwig, das ist ja eine Überraschung!«, rief er. »Warst du etwa in der Nachmittagsvorstellung?«

      Hedwig erkannte Albert von Dombrowski sofort wieder, auch wenn Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren.

      »Herr von Dombrowski ...«, murmelte sie und wurde von Albert unterbrochen:

      »Nicht so förmlich, wir waren doch schon beim Du, Hedi.«

      Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und sah aus den Augenwinkeln, wie Luise skeptisch die Stirn runzelte. Hedwig besann sich und sagte schnell: »Das ist meine Schwester Luise Mahnstein. Luise – Albert von Dombrowski.«

      Er begrüßte Luise mit einem freundlichen Kopfnicken und sagte: »Ich hoffe, Ihnen, Fräulein Luise, und dir, Hedi, haben meine kleinen musikalische Untermalungen gefallen.«

      »Du bist der Klavierspieler!«, rief Hedwig. »Die Musik war wunderschön und hat zu jeder Filmszene perfekt gepasst.«

      Albert nickte und verbarg nicht seinen Stolz, als er sagte: »In den letzten Jahren habe ich in Königsberg zahlreiche Filme untermalt, denn ich komponiere die Melodien selbst. Musiker wie ich werden Tappeure genannt, das klingt ziemlich hochtrabend, nicht wahr? In den großen Städten spielen aber häufig ganze Orchester in den Kinosälen zur Untermalung, aus diesem Grund bin ich wieder nach Sensburg gekommen. Hier kann ich meine eigenen Werke darbieten.«

      »Wie ist es dir gelungen, deinen Vater zu überzeugen, dich Musik studieren zu lassen?«, fragte Hedwig, die kein Wort ihrer früheren Unterhaltung vergessen hatte.

      »Also, ich möchte euch ja nicht unterbrechen oder mich einmischen«, sagte Luise, »aber ich muss die Kinder ins Bett bringen.«

      Albert sah sie erschrocken an. »Verzeihen Sie, Fräulein Luise, wir wollen Sie nicht außen vor lassen, die Freude, so unverhofft Ihre Schwester wiederzusehen, hat mich einfach überwältigt. Allerdings bin ich überrascht zu erfahren, dass Sie in Ihrem zarten Alter bereits Kinder haben, wenn ich das so ausdrücken darf.«

      Hedwig lachte hell und rief: »Meine Schwester arbeitet in einem Haushalt und versorgt die Kinder der Herrschaft.« Sie hakte sich wieder bei Luise unter. »Du hast recht, es ist spät geworden. Ich begleite dich nach Werder.«

      »Nichts da!« Albert drängte sich zwischen die Frauen und bot jeder je einen Arm. »Selbstverständlich bringe ich die Damen nach Hause, dabei können wir noch ein wenig plaudern, Hedi.«

      Luise runzelte unwillig die Stirn, und Hedwig wusste, dass sie unverzüglich Albert von Dombrowski »Auf Wiedersehen« sagen sollte. Was war jedoch dabei, an einem milden Frühlingsabend an der Seite eines attraktiven Mannes einen Spaziergang zu machen? Hedwig hätte ihre Schwester ohnehin nicht allein den weiten Weg nach Werder gehen lassen, und eine Begleitung auf dem Rückweg konnte doch sehr nett sein. Außerdem interessierte es sie, wie Albert von Dombrowski die letzten Jahre verbracht und was er erlebt hatte.

      In den kommenden Wochen trafen sich Hedwig und Albert von Dombrowski regelmäßig. Heimlich, denn Hedwigs Vater achtete streng darauf, dass keine seiner Töchter sich mit Männern herumtrieb, wie er es nannte, und den Ruf der Familie verdarb. Mit seiner Musik begleitete Albert die Nachmittags- und Abendaufführungen im Lichtspielhaus, und Hedwig gelang es, sich für eine oder zwei Stunden von den häuslichen Pflichten freizumachen, sodass sie sich zwischen den Vorstellungen treffen konnten. Diese Zusammenkünfte, bei denen sie über Gott und die Welt plauderten, waren für Hedwig kleine Inseln der Ruhe und des Abstands von der unermüdlichen Arbeit geworden. Besonders, dass niemand davon wusste, gab der Sache etwas Prickelndes. Manchmal dachte Hedwig daran, Luise einzuweihen, entschied sich aber dagegen. Sie vertraute Luise zwar, diese würde sie niemals an den Vater verraten, Hedwig wollte die Schwester aber nicht in Verlegenheit bringen oder gar, dass diese für sie lügen musste.

      Auch an diesem frühsommerlich-warmen Nachmittag saßen sie auf einer Bank unterhalb des Bismarckturms. Auf einer Anhöhe über der Stadt gelegen und von einem Wäldchen umgeben war der Turm ein beliebtes Ausflugsziel an den Sonntagen, unter der Woche waren Hedwig und Albert aber meistens allein. Unter ihnen die Stadt lag in friedlicher Ruhe. Das dichte Laub der mächtigen Eichen und Buchen spendete Schatten, Vögel hüpften von Ast zu Ast und zwitscherten muntere Melodien. Hedwig liebte diesen Platz inmitten der beinahe unberührten Natur, und durch Alberts Anwesenheit hatte er einen ganz besonderen Zauber gewonnen. Die Jahre in Königsberg, in denen Albert auf sich allein gestellt war, hatten aus dem schlaksigen Jüngling einen gestandenen Mann gemacht. Das pechschwarze Haar trug er zur Seite gescheitelt, und ein schmaler Bart zierte seine Oberlippe. Zweifelsohne war er attraktiv, und er verstand es, mit Frauen umzugehen. Bei ihren ersten Treffen hatte Hedwig ihre Brille nicht getragen und war prompt über eine Baumwurzel gestolpert.

      »Hoppla!« Albert hatte sie aufgefangen und lachend gesagt: »Du solltest deine Brille aufsetzen, Hedi, sonst werden deine Augen nur noch schlechter.«

      Hedwig war flammendrot geworden, auch, weil Albert sie länger als notwendig in den Armen gehalten hatte. Schnell hatte sie sich von ihm gelöst und dann in die Rocktasche nach ihrer Brille gegriffen. Albert war so taktvoll, sie nicht spüren zu lassen, dass er genau wusste, dass Hedwig die Brille verborgen hatte, um ihm zu gefallen.

      Interessiert lauschte Hedwig seinen Erzählungen aus Königsberg.

      »Dort gibt es elektrische Straßenbahnen, Hunderte von Automobilen und kaum noch Pferdefuhrwerke auf den Straßen. Die Häuser sind oft mehrere Stockwerke hoch, und in den Warenhäusern kann man alles kaufen, was das Herz begehrt. Das Meiste wird mit Schiffen geliefert, so herrscht am Hafen ständig reger Betrieb. Die Ausbildung an der Musikhochschule war hart, aber endlich konnte ich das machen, was ich schon immer wollte: Musik! Da mein Vater das Studium zwar erlaubte, aber nicht gewillt war, mich finanziell zu unterstützen, begann ich, in den Lichtspielhäusern und in Lokalen der Stadt Klavier zu spielen. Zuerst nach vorgegeben Noten, seit einem Jahr komponiere ich auch selbst. So hielt ich mich über Wasser, und manchmal wurde ich auch von Hotels für deren Abendunterhaltungen engagiert.«

      »Wolltest du schon immer Musik machen?«, fragte Hedwig.

      Er nickte. »Ich war etwa acht oder neun Jahre alt, als meine Eltern mich in ein Konzert mitnahmen, es wurde Beethoven gespielt. Es war wie ein magischer Moment. Mein Blick hing gebannt an den Fingern des Klavierspielers. Ich glaube, in diesem Augenblick wusste ich, dass ich Pianist werden will. Von meinen Eltern erbettelte ich den Klavierunterricht. Sie mussten sich jede Stunde vom Mund absparen, erfüllten mir aber diesen Wunsch, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Bald merkte ich, dass es nicht die Klassik ist, die mich begeistert, sondern die flotten, beschwingten Melodien. Wenn ich spiele, sollen die Menschen fröhlich sein, tanzen und mitsingen.«

      Hedwig beneidete Albert, dass es ihm gelungen war, seine Träume zu realisieren, und fragte: »Welche Pläne hast du für die Zukunft? Weiterhin als Tapp...«, sie stockte, konnte sich an den genauen Ausdruck nicht mehr erinnern.

      »Tappeur«, half er Hedwig auf die Sprünge, und sein Blick ging in die Ferne und war verklärt, als er leise sagte: »Am liebsten würde ich Lieder komponieren, die von bekannten Interpreten vorgetragen werden. Drüben in Amerika haben nicht nur der Jazz und die instrumentalen Stücke der Big Bands die Theaterhäuser und Bühnen erobert. Immer mehr Sänger