Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rebecca Michéle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131354
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anstrengend, die Kammer im Dachgeschoss eng und mit nur einem kleinen, nach Norden ausgerichteten Fenster, im Sommer heiß und im Winter eiskalt – für Hedwig war es aber das pure Glück auf Erden. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie auf eigenen Füßen. Sie entschied selbst, wann sie aufstand und wann sie zu Bett ging, wann sie aß und was sie in ihrer Freizeit unternahm. Diese war ohnehin knapp bemessen, denn die Ausbildung war hart und forderte Hedwigs volle Konzentration, ebenso die Arbeit im Hotel. Selten kam sie vor ein oder zwei Uhr in der Nacht ins Bett, um sechs Uhr am Morgen stand sie wieder auf. Lediglich an den Sonntagen konnte sie länger schlafen. Bei den anderen Kursteilnehmern war Hedwig schnell als Streberin verschrien, da sie sich an keiner ihrer Unternehmungen beteiligte. Sie waren acht Männer und drei Frauen, wobei alle, auch die Frauen, ständig auf Hedwig einredeten, sie möge sich mit dem Titel einer Damenschneidermeisterin begnügen und nicht versuchen, sich in eine Männerdomäne zu drängen.

      Da Albert von Dombrowski als Pianist im selben Hotel spielte, sahen sie sich nun täglich. Zusammen mit den Kollegen bewohnte Albert eine Wohnung am Stadtrand, die Hedwig jedoch niemals betrat. Weder an der Schule noch im Hotel wollte sie in Verruf geraten, und Hedwig spürte, dass ihre Bekanntschaft einen Punkt überschritten hatte, an dem sie nicht länger nur Freunde waren. Sie küssten sich regelmäßig, mehr Zärtlichkeiten ließ Hedwig jedoch nicht zu. Sie begründete es damit, sie müsse sich auf ihre Ausbildung konzentrieren. Albert schien ihre Zurückweisung auch nicht zu enttäuschen. Hedwig blieb nicht verborgen, wie Albert auf Frauen wirkte, und auch, dass er einem Flirt nicht abgeneigt war. Musiker übten ohnehin eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Damenwelt aus, und Hedwig verbot sich, darüber traurig oder gar eifersüchtig zu sein. Sie hatte Albert viel zu verdanken, sie mochte ihn, vielleicht war sie sogar in ihn verliebt, aber sie hatte auch ein Ziel vor Augen, für das sie mit aller Kraft kämpfen wollte. Auf keinen Fall wollte Hedwig jung heiraten, so wie ihre Mutter, jedes Jahr ein Kind bekommen und nur noch für die Familie und den Haushalt zuständig sein. Nach dem Krieg hatte für die Frauen ein neues Zeitalter begonnen, sie waren aus dem Schatten der Männer herausgetreten, und Hedwig wollte daran teilhaben. Albert konnte sie sich ohnehin nicht als Ehemann vorstellen. Nicht nur, dass sie an seiner Treue zweifelte, wovon sollte er eine Familie ernähren? Das, was er als Musiker verdiente, reichte gerade für ihn zum Überleben, und oft gab Albert das Geld so, wie es reingekommen war, gleich wieder aus. Großspurig lud er Freunde ein, schmiss eine Lokalrunde nach der anderen und sprach dem Alkohol reichlich zu. Als Hedwig es wagte, ihn darauf anzusprechen, erwiderte Albert nur: »Meine Güte, Hedi, sei doch nicht so ein Moralapostel! Wir sind nur einmal jung, wir leben jetzt und hier, und wer weiß, was die Zukunft bringt? Vielleicht sogar einen neuen Krieg ...«

      »Das möge Gott verhüten«, war Hedwig ihm ins Wort gefallen. »Die Menschen haben aus der Vergangenheit gelernt, so etwas wird nie wieder vorkommen.«

      »Na ja, die politische Lage im Reich ist angespannt, allein wegen den Repressalien, die Deutschland im Vertrag von Versailles auferlegt wurden. Hier in Masuren bekommen wir davon kaum etwas mit, doch wir sitzen auf einem Pulverfass, dessen Lunte jederzeit entzündet werden kann.« Er nahm Hedwig in den Arm und küsste sie. »Was machen wir uns darüber Gedanken? Es kommt ohnehin so, wie es kommen muss. Wir sind alle nur klitzekleine Rädchen in einem großen Getriebe. Darum lass uns das Leben genießen, Hedi!«

      Während der Weihnachtszeit und über den Jahreswechsel hatte die Schule zwar geschlossen, das Hotel aber war bis unters Dach belegt, und Hedwig konnte jeden zusätzlichen Pfennig gut gebrauchen. Der Brief ihrer Mutter, den sie auf ihre Nachricht, sie würde zu Weihnachten nicht nach Hause kommen, erhalten hatte, war kühl und unpersönlich. Auguste Mahnstein wünschte ihrer Tochter ein frohes Fest, ein Gruß des Vaters war nicht beigefügt. Von den Geschwistern schrieb ihr lediglich Luise regelmäßig, die ihrer Schwester stets Bewunderung für ihren Mut in Worte fasste und ihr riet, mit aller Kraft an ihren Zielen festzuhalten.

      Es war ein hartes Jahr gewesen, gleichzeitig eines der glücklichsten, das Hedwig je erlebt und das sie geprägt hatte. Niemals wieder würde sie sich von jemandem unterjochen lassen, sondern ihren eigenen Weg gehen. Sie durfte nur nicht daran denken, was geschehen würde, sollte sie die Abschlussprüfungen nicht bestehen. Dies war ihre größte Angst, und sie lernte und arbeitete mit einer Intensität, die an Verbissenheit grenzte.

      Die Luft war drückend schwül, durch das geöffnete Fenster drang kein Lufthauch. Unruhig lief sie auf und ab. Von einer Wand zu anderen waren es genau neun Schritte, in der vergangenen Stunde hatte Hedwig diese wieder und wieder gezählt. Nervös öffneten und schlossen sich ihre Finger, ständig sah Hedwig zur Uhr, deren Zeiger sich im Schneckentempo zu bewegen schienen. Wie lange dauerte es denn noch? Die Zunge klebte an ihrem Gaumen, sie konnte es aber nicht wagen, ihren Platz hier zu verlassen, um sich ein Glas Wasser zu holen. Hedwig fuhr herum, als sich die Tür öffnete.

      »Albert? Du hier?«, rief sie, überrascht, ihn zu sehen, gleichzeitig auch enttäuscht, denn sie hatte darauf gehofft, man würde sie endlich aufrufen.

      »Hast du das Ergebnis schon?«, fragte Albert und küsste sie auf die Wange. »Leider konnte ich nicht früher kommen, ich habe aber den ganzen Tag über an dich gedacht und dir fest die Daumen gedrückt.«

      Hedwig schüttelte den Kopf. »Die lassen mich schmoren, ich warte bereits seit einer Stunde.«

      »Wie ist es gegangen?«

      Sie zuckte mit den Schultern.

      »Ich habe mein Bestes gegeben und fand die Aufgabe nicht sehr schwer, aber ich darf nicht zu sicher sein.«

      »Ich bin überzeugt, du hast auch diese Prüfung mit Bravour bestanden.« Er gab ihr einen Nasenstüber und fügte hinzu: »Du bist viel zu bescheiden, Hedi. Wenn man gut ist, dann darf man offen zu sich und seinen Leistungen stehen.«

      »Danke, Albert«, Hedwig lächelte und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. »Ob meine Leistungen ausgereicht haben – darüber entscheiden die strengen Herren der Kommission.«

      Beruhigend drückte Albert ihre Hand. »Die Prüfung zur Damenschneidermeisterin letzte Woche hast du mühelos abgelegt, Hedi, da waren alle deine Bedenken unberechtigt gewesen.«

      »Das ist zwar richtig«, stimmte Hedwig nachdenklich zu, »wenn sich eine Frau jedoch anmaßt, den Titel auch für Herren zu erlangen, werden an sie höhere Anforderungen als bei einem Mann gestellt. Ich habe den Eindruck, der Prüfungskommission ist eine Frau ein Dorn im Auge, und sie werden akribisch nach jedem noch so kleinen Fehler suchen.«

      Albert konnte Hedwig nicht widersprechen, auch wenn er ihr gern Mut gemacht hätte.

      Als einzige Frau ihrer Ausbildungsgruppe hatte Hedwig sich auch für die Prüfung zur Herrenschneidermeisterin an­gemeldet.

      Hedwig war Albert dankbar, dass er sich extra freigenommen hatte, um ihr in dieser für sie entscheidenden Stunde moralisch beizustehen. Wenn sie durchfiel, wäre das Wasser auf die Mühlen ihres Vaters, allein deswegen wollte sie es schaffen.

      Es verging eine weitere bange halbe Stunde, bis eine ältere Frau das Zimmer betrat und sagte: »Fräulein Hedwig Mahnstein, die Prüfungskommission erwartet Sie jetzt. Bitte folgen Sie mir.«

      Es dauerte keine fünfzehn Minuten, dann kehrte Hedwig zurück.

      An ihrer ausdruckslosen Miene konnte Albert nichts ablesen, und Hedwig sank auf eine Bank, legte ein Schriftstück neben sich und schlug die Hände vor das Gesicht.

      »Was ist?«, rief Albert nervös. »Hast du das Ergebnis?« Hedwigs Schultern zuckten, ein leises Schluchzen drang durch ihre Finger. Er setzte sich neben sie und legte seinen Arm um sie. »Ach, Hedi, das tut mir aufrichtig leid, es ist doch nicht so schlimm. Du machst die Prüfung in einem Jahr einfach nochmal, und immerhin bist du Damenschneidermeisterin, das kann dir niemand mehr nehmen.«

      Hedwig hob den Kopf, Tränen liefen über ihre Wangen. Mit dem Daumen strich Albert sie fort, aber jetzt lachte Hedwig und reichte Albert das Schreiben.

      Gespannt las er die Zeilen, sprang dann auf und rief: »Du hast bestanden! Sogar mit Auszeichnung! Meine Güte, warum weinst du dann?«

      »Das ist nur die Anspannung«, erwiderte