Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rebecca Michéle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131354
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es könne von Vorteil sein, wenn wir eine neue Regierung bekommen würden. Eine polnische Regierung! Man stelle sich das mal vor!«

      »Das ist ja fast ein Scheidungsgrund«, knurrte Hermann Mahnstein. »Es ist eine Schande, dass wir durch einen Korridor voller Pollacken von Deutschland getrennt sind, aber unser gutes, altes Ostpreußen werden die nicht bekommen! Die nicht! So wahr ich ein treuer Beamter des Preußischen Reiches gewesen bin!«

      »Das könnte einen neuen Krieg bedeuten«, flüsterte Hedwig. Ihre Anspannung stand der der anderen in nichts nach. Zum ersten Mal war auch sie zur Wahlurne gegangen und hatte ihr Kreuz in dem Feld für den Verbleib Ostpreußens bei Deutschland gesetzt. Die Mahnsteins waren seit vielen Generationen Deutsche, und sie wollten Deutsche bleiben. So wie Hedwig dachten alle, mit denen sie in den letzten Tagen über die Abstimmung gesprochen hatte. Niemand hier wollte den Anschluss an Polen. Wie aber war die Stimmung im Rest des Landes, wie hatten die Anderen entschieden? Vor einigen Tagen war in Sensburg bekannt geworden, dass die Polen um die 25.000 Abstimmungswillige, die aus beruflichen oder privaten Gründen im Westen des Reiches gewesen waren und zur Abstimmung in ihre Heimat hatten reisen wollen, im Korridor festgehalten hatten. Dieses Gebaren zeugte doch von der Unfähigkeit der polnischen Regierung.

      Nachdem die im Vertrag von Versailles ratifizierten Abtretungsregelungen in Kraft getreten waren, lag Ostpreußen einer Insel gleich nun in polnischem Staatsgebiet. Die meisten Sensburger tangierte das wenig, nur die, die regelmäßig nach Berlin oder in andere große Städte im Westen reisen mussten, bekamen die Schwierigkeiten zu spüren. An der Grenze stiegen polnische Soldaten zu, Reisepässe mussten vorgezeigt werden, die Waggons wurden verplombt, und die Züge durften auf polnischem Gebiet nicht stoppen. Waren aus dem Westen hatten sich stark verteuert, wurden doch jetzt bei der Durchreise durch den polnischen Korridor Zölle erhoben, oder die Waren mussten auf Schiffen über die Ostsee transportiert werden.

      Den Einwohnern Ostpreußens war es freigestellt worden, ob sie weiterhin bei Deutschland verbleiben oder eine Provinz in Polen werden wollten. Alle erwachsenen Männer und Frauen waren an diesem schicksalsträchtigen Tag im Juli aufgerufen, abzustimmen. Für Hermann Mahnstein stand das Ergebnis außer Frage, Auguste hatte wie immer keine Meinung und nicht abgestimmt, aber in Hedwig wuchs die Nervosität. Bisher hatte sie sich nie für Politik interessiert und wusste zu wenig von den Vorgängen im für sie fernen Deutschland. Sie besaß aber Augen und Ohren und hatte in den letzten Monaten mitbekommen, dass nicht wenige sich wünschten, unter polnischer Regierung endlich ein friedliches Leben führen zu können.

      Das Kriegsende lag bald zwei Jahre zurück, Deutschland kam aber nicht zur Ruhe. Revolutionen, Putsche, Streiks und Straßenkämpfe waren an der Tagesordnung. Auch wenn in Masuren das Leben in gewohnten Bahnen zu verlaufen schien, lag über den grünen Wäldern und stillen Seen eine Anspannung, die beinahe greifbar war.

      »Still, Leute! Da ist der Bürgermeister!«, rief nun jemand, und die Menge drängte sich näher an das Rathaus heran. Hedwigs Herz begann schneller zu klopfen, als der Bürgermeister auf die steinerne Balustrade trat. Schlagartig wurde es mucksmäuschenstill.

      Der Bürgermeister hob ein Blatt Papier, rückte seine Brille zurecht und begann zu lesen: »Ich verkünde nun das Ergebnis der Volksabstimmung, ob Ostpreußen weiterhin bei Deutschland verbleibt oder sich dem polnischen Reich anschließen wird.« Um Hedwig herum holten viele Leute tief Luft und hielten den Atem an. »Von den 50.789 Bewohnern des Landkreises Sensburg waren 38.736 stimmberechtigt. Davon stimmten 25 für einen Anschluss an Polen und ...«

      Der Rest des Satzes ging in einem ohrenbetäubenden Jubel unter. Menschen fielen sich in die Arme und tanzten im Freudentaumel auf dem Marktplatz. Es herrschte eine ähnliche Stimmung wie an dem Abend, als das Kriegsende verkündet worden war.

      Nach einiger Zeit beruhigte sich die Menge, denn das Ergebnis des Landkreises Sensburg war ja nicht maßgeblich für ganz Ostpreußen.

      »Von den 422.067 Stimmberechtigen in Ostpreußen sprach sich die überwältigende Mehrheit von 363.159 für den Verbleib aus. Somit ist es beschlossen: Unser schönes Ostpreußen ist und bleibt ein Teil Deutschlands.«

      »Wenn ich erfahre, wer die fünfundzwanzig sind, die anders gestimmt haben, werde ich mit denen ein Hühnchen rupfen«, bemerkte Hermann Mahnstein grimmig.

      »Aus diesem Grund sind solche Abstimmungen geheim«, bemerkte Hedwig, was ihr Vater kaum zur Kenntnis nahm. Später erfuhr sie, dass die Ergebnisse fast überall derart eindeutig ausgefallen waren, einzig im Landkreis Allenstein hatte sich mit knapp fünftausend Stimmen eine verhältnismäßig hohe Anzahl für den Anschluss an Polen entschieden. Allenstein lag aber auch nahe an der neuen polnischen Grenze. Insgesamt hatten sich 97,86 Prozent aller Ostpreußen Hermann Mahnsteins Meinung nach für den einzig richtigen Weg entschieden. Ein ähnlich deutliches Ergebnis ergab auch die Abstimmung in Westpreußen.

      Als Hedwig am Montagmorgen bei Erna Ballnus eintraf, bemerkte sie, dass die Schneiderin bedrückt war. Fräulein Ballnus´ Augen waren dunkel umschattet, und sie grüßte Hedwig nur einsilbig. Zuerst vermutete Hedwig, es hinge mit der gestrigen Abstimmung zusammen, wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass die Frau eine der fünfundzwanzig war, die sich lieber Polen angeschlossen hätte.

      Sie bat Hedwig, sich zu ihr zu setzen. Auf dem Schneidertisch waren keine Schnittmuster und Stoffe ausgebreitet, in den Nähmaschinen keine Fäden eingespannt, die Schneiderwerkstatt wirkte ungewöhnlich leblos und steril.

      »Ich muss mit dir sprechen, Hedwig«, sagte Fräulein Ballnus, »und werde nicht lange um den heißen Brei herumreden, denn das macht es nicht besser. Es ist mir leider nicht möglich, dich länger zu beschäftigen.«

      Hedwig musste erst kräftig schlucken, bevor sie antworten konnte: »Sie entlassen mich, Fräulein Ballnus?«

      »Es bleibt mir keine andere Wahl.« Erna Ballnus seufzte und fuhr fort: »Es wird dir nicht verborgen geblieben sein, dass die Aufträge im letzten halben Jahr zurückgegangen sind. Bei der unsicheren Lage, in der wir uns befinden, und weil alles teurer wird, leisten sich immer weniger Menschen eine Maßschneiderei. Wir haben kaum noch Neuanfertigungen, sondern lediglich Änderungen im Auftragsbuch. Hier mal einen Saum kürzen, dort eine Naht herauslassen. So leid es mir tut, Hedwig, und ich denke, du weißt, wie sehr ich deine Arbeit schätze, aber ich kann mir eine Angestellte nicht länger leisten.«

      Hedwig nickte automatisch. Es stimmte, was Fräulein Ballnus sagte: In den letzten drei Monaten hatten sie nur ein einziges Kostüm neu geschneidert und sie, Hedwig, war eine ausgelernte Kraft, der ein entsprechender Lohn zustand.

      »Werden Sie stattdessen ein neues Lehrmädchen einstellen?«, fragte Hedwig, denn ein Lehrling kostete deutlich weniger.

      »Ich werde meine Arbeit und die Wohnung aufgeben und die Stadt verlassen.«

      »Wie bitte?« Überrascht fuhr Hedwig auf.

      »Mein Rheumatismus wird von Jahr zu Jahr schlimmer«, erklärte die Schneiderin. »Noch ist Sommer, aber ich denke bang an den kommenden Winter. Ich habe Verwandte im Süden Deutschlands, wo die Winter weniger lang und hart sind. Im Herbst werde ich Sensburg den Rücken kehren.«

      Hedwig wusste nicht, was sie sagen sollte. Einerseits brachte sie Verständnis für Erna Ballnus´ Entscheidung auf, das bedeutete aber gleichzeitig, dass sie arbeitslos wurde. In der Stadt gab es zwar noch weitere Schneiderwerkstätten, aber alle hatten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen und bei keiner war eine Stelle frei. Sehnsüchtig glitt Hedwigs Blick über die Nähmaschinen, die Regale voller Stoffballen und den großen Tisch. Erna Ballnus folgte Hedwigs Blicken und sagte leise: »Du bist eine ausgezeichnete Schneiderin, Hedwig, und es wäre schön, wenn ich dir das alles hier«, sie machte eine raumgreifende Handbewegung, »überlassen könnte, damit du dir deine eigene Werkstatt aufbauen kannst. Da ich für den Start in mein neues Leben aber Geld benötige, bin ich gezwungen, für den besten Preis, den man mir bietet, zu verkaufen.«

      Betroffen senkte Hedwig den Kopf. Unmöglich konnte sie das Geld aufbringen, um das Inventar der Schneiderwerkstatt zu übernehmen. Sie hatte gerade erst ihre Lehre beendet, und keine Bank würde ihr einen Kredit bewilligen. Auch war sie noch nicht mündig und bräuchte die Zustimmung ihres Vaters,