Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rebecca Michéle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958131354
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junge Dombrowski sie nichts anginge und seine Worte nur so dahingesagt waren – wahrscheinlich verhielt er sich allen einigermaßen hübschen Mädchen gegenüber ähnlich –, ließ sie am Sonntag beim Gottesdienst ihren Blick über die Leute schweifen in der Hoffnung, ihn in der Kirche zu entdecken. Vom Gut Kahlenwald suchte aber keiner das Gotteshaus auf, und Hedwig fragte sich, ob die von Dombrowskis entweder nicht gläubig waren oder zu der Minderheit der Katholiken gehörten, die die Messe in einer anderen Kirche besuchten.

      Die Evangelische Pfarrkirche war von außen ein schmuckloser Bau aus dem frühen 18. Jahrhundert, der graue Stein aber hatte den verheerenden Stadtbrand im Jahr 1822 beinahe unbeschädigt überstanden. Unmittelbar nachdem der preußische König der Reformation anhing, wurde auch Masuren lutherisch. Die katholische St.-Adalbert-Kirche aus roten Backsteinen befand sich nur ein kurzes Stück östlich die Straße hinunter und war erst vor rund fünfzig Jahren erbaut worden. Bei den Messen war sie meistens halb leer, während in der Pfarrkirche die Menschen oft keinen Sitzplatz mehr bekamen und den Gottesdienst stehend verfolgen mussten. Im Haus Mahnstein wurde Religion groß geschrieben. Auguste Mahnstein war eine zutiefst gläubige Frau und erwartete dasselbe von ihren Kindern. Hedwig betete jeden Abend für ihre Familie. In den letzten Tagen hatte sich in ihr Gebet die Bitte eingeschlichen, Jesus Christus möge auch auf Albert von Dombrowski ein wachsames Auge haben und seinen Wunsch, Musiker zu werden, alsbald erfüllen.

      Hedwig stürzte sich in die Weihnachtsvorbereitungen, auch in der Schneiderwerkstatt fand sie kaum Gelegenheit, um Luft zu holen. Wer es sich leisten konnte, ließ sich zum Christfest neue Kleider anfertigen, dementsprechend voll war das Auftragsbuch von Erna Ballnus. Zwei Tage vor dem Heiligen Abend betrat eine untersetzte, kräftige Frau die Schneiderstube. Hedwig war allein, Fräulein Ballnus weilte bei einer Kundin in der Stadt, um Maß zu nehmen.

      »Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Hedwig die ihr unbekannte Dame, denn dass sie eine Dame war, verriet ihr hochmütiger Gesichtsausdruck.

      Die engstehenden Augen der Frau irrten suchend durch das Zimmer.

      »Ist die Ballnus nicht da?«

      Unwillig runzelte Hedwig die Stirn und erwiderte kühl und mit Betonung des ersten Wortes: »Fräulein Ballnus ist bei Kundschaft. Ich bin ihr Lehrmädchen.«

      Die ohnehin schmalen Lippen der Frau wurden zu einem Strich, aus denen sie hervorpresste: »Da komme ich extra den weiten Weg in die Stadt, um mit einem Lehrmädchen abgespeist zu werden.« Sie musterte Hedwig eindringlich, bevor sie erklärte: »Ich habe einige Stücke zum Ändern mitgebracht. Die Qualität der Stoffe ist sehr schlecht, beim Waschen sind die Sachen eingegangen. Sie müssen die Nähte herauslassen.«

      Die Frau stellte den mitgebrachten Korb auf den Tisch und nahm zwei dunkelbraune Röcke, eine helle Bluse und ein dunkelgrünes Kleid heraus. Mit einem Blick erkannte Hedwig, dass es sich um eine gute Stoffqualität handelte. Nicht die allerbeste, aber bestimmt nicht so schlecht, dass die Kleidungsstücke bei einer fachgerechten Wäsche eingingen. Sie vermutete, dass die Frau an Gewicht und Umfang zugelegt hatte und die Schuld auf minderwertiges Material schieben wollte.

      »Ich werde es Fräulein Ballnus ausrichten und Maß bei Ihnen nehmen.«

      »Können Sie das denn? Nicht, dass nachher alles noch viel schlimmer ist und die guten Sachen völlig verschnitten sind.«

      Hedwig musste sich beherrschen, um keine patzige Antwort zu geben.

      »Im nächsten Frühjahr werde ich meine Lehre beenden, Sie können mir vertrauen«, sagte sie kühl.

      Die Frau zögerte, sah aber ein, dass sie nur die Wahl hatte, sich entweder von dem Lehrmädchen Maß nehmen zu lassen oder ein zweites Mal kommen zu müssen. Sie wählte das kleinere Übel und zog ihren Mantel aus.

      »Sind Sie bereits Kundin bei Fräulein Ballnus?«, fragte Hedwig.

      »Selbstverständlich, und zwar eine sehr gute«, antwortete die Frau von oben herab. »Ich kann doch erwarten, dass die Änderungen sauber und schnell durchgeführt werden«, sie taxierte Hedwig skeptisch, »und zwar von Fräulein Ballnus persönlich.«

      Hedwig kostete es immer mehr Mühe, geschäftsmäßig freundlich zu bleiben. »Wenn Sie mir bitte Ihren Namen nennen, damit ich Ihre Karteikarte heraussuchen kann, gnädige Frau.«

      »Johanna Baronin von Dombrowski. Sie haben sicher schon von mir gehört.«

      Der Bleistift entglitt Hedwigs Fingern. Das also war Alberts Mutter! Sie hatte mitbekommen, dass die Freifrau stolz war und lebte, als hätte die Familie noch alle Privilegien und auch das Geld des alten preußischen Adels.

      Hedwig entnahm einer Holzkiste die Kundenkarte, zögerte dann aber. Die letzte Lieferung hatte sie zwar bezahlt, Fräulein Ballnus hatte aber geäußert, sie wolle von der Baronin keine weiteren Aufträge mehr annehmen. Zumindest nicht ohne Vorkasse. Hedwig befand sich in einem Zwiespalt. Konnte sie es wagen, die Baronin mit den Worten, sie möge wiederkommen, wenn Fräulein Ballnus anwesend war, fortzuschicken, oder sollte sie den Auftrag annehmen und sich eine erneute Rüge einhandeln? Sie entschied sich für Letzteres. Sie würde die aktuellen Maße der Baronin nehmen, Fräulein Ballnus konnte dann immer noch entscheiden, ob sie deren Kleidung nach Kahlenwald zurückschicken wollte.

      Routiniert vermaß Hedwig die Baronin, eine Sache von wenigen Minuten. Johanna von Dombrowski hatte schon die Hand auf der Klinke, um die Schneiderwerkstatt zu verlassen, als Hedwig fragte: »Wie geht es Ihrem Sohn? Ich hoffe, er ist wohlauf.«

      »Albert?« Überrascht drehte sich die Baronin um. »Woher kennen Sie meinen Sohn?«

      »Vor zwei Wochen habe ich Ihnen ein Kleid nach Kahlenwald geliefert, traf aber nur Ihren Sohn an, der so freundlich war, es Ihnen auszuhändigen.«

      »Ach, Sie waren das?« Johanna von Dombrowski zog missbilligend die Nase kraus und nickte. »Ich erinnere mich, dass Albert nebenbei erwähnte, ein Kind habe die Lieferung gebracht und er habe es mit dem Schlitten in die Stadt zurückgefahren. Das war sehr großzügig von meinem Sohn, Albert verfügt über ein edelmütiges Herz.«

      Ein Kind! Für einen Moment hielt Hedwig die Luft an und presste ihre Kiefer aufeinander. So hatte Albert sie also gesehen, dabei war er auch nicht mehr als ein Rotzlöffel. Und so einem Mann erlaubte sie, sich in ihre Gedanken zu stehlen! Keinen Gedanken wollte sie künftig mehr an ihn verschwenden. Als Johanna von Dombrowski nun noch sagte, zu Beginn des nächsten Jahres würde Albert nach Königsberg gehen, um sich an einer Musikschule ausbilden zu lassen, empfand Hedwig Erleichterung. Sie würden nicht mehr aufeinandertreffen. Ein Teil in ihr freute sich aber für Albert, da er den Wunsch, Musiker zu werden, bei seinem Vater hatte durchsetzen können.

      Sensburg, 11. Juli 1920

      In diesem Jahr waren die Sommertage extrem heiß und trocken. Auch am heutigen Abend kühlte die Luft kaum ab und heizte die angespannte Stimmung, die über der Stadt, ja, über ganz Ostpreußen lag, zusätzlich an. So gut wie alle Erwachsenen und zahlreiche Kinder hatten sich auf dem Marktplatz versammelt, die Blicke auf das Portal des Rathauses gerichtet, dessen Tür verschlossen war.

      »Wie lange dauert das denn noch? Sie müssen die Ergebnisse inzwischen doch ausgezählt haben«, bemerkte ein Mann hinter Hedwig ungeduldig.

      Hermann Mahnstein drehte sich zu dem Sprecher um, nickte zustimmend und meinte: »Über den Telegrafen sind die Ergebnisse aus den anderen Kreisen sicher schon mitgeteilt worden. Ich glaube, wir werden bewusst auf die Folter gespannt.«

      »Was soll nur werden, wenn die Abstimmung zu unseren Ungunsten verlaufen ist?«, bemerkte eine ältere Frau.

      »Das möge Gott verhüten«, murmelte Hermann Mahnstein, in seiner angespannten Mimik war aber die gleiche Sorge zu lesen.

      »Vater, ich glaube nicht, dass die Menschen wollen, dass wir polnisch werden«, sagte Hedwig.

      »Deine Meinung interessiert nicht«, knurrte Hermann Mahnstein. »Schlimm genug, dass das erwachsene Weibsvolk hat mit abstimmen dürfen, als ob Frauen wüssten, was gut für unser Land ist.«