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»Was war das? Hast du das gehört?« Zoe schob Victor von sich, der unermüdlichen ihren Hals mit Küssen bedeckte und seine Hand unter ihrem Rock hatte.
»Ja«, erwiderte Victor und schob die Hand höher. »Das ist bestimmt ein Jäger, der einen Hirsch erlegt hat.«
»Unsinn. Das war kein Schuss.« Zoe richtete sich auf und drehte die Rückenlehne des Beifahrersitzes hoch. Verärgert ließ Victor von ihr ab.
»Himmel, Sweetheart. Ich bin doch nicht mit dir hierher in den Wald gefahren, damit du dich von jedem Geräusch erschrecken lässt. Ich dachte, wir waren uns einig und genießen den Abend!«
»Irgendwas ist passiert. Das klang, als wäre jemand gegen einen Baum gefahren. Lass uns nachsehen, vielleicht braucht derjenige Hilfe«, sagte Zoe und schloss die Knöpfe ihrer Bluse.
»Wenn du es dir anders überlegt hast, sag es einfach. Ich bin dann zwar sauer, aber noch viel saurer bin ich, wenn ich mit Ausreden abgespeist werde«, knurrte Victor. Zoe legte ihm die Hand aufs Knie.
»Fahr vor zur Straße bitte. Wenn ich mich geirrt habe, kehren wir wieder um und ich mach alles gut, okay?«
Victor seufzte. Das Schäferstündchen auf dem Waldparkplatz konnte er vergessen. Wenn er ehrlich war, hatte sich der krachende Laut wirklich nicht nach einem Schuss angehört. Victor ließ den Motor an.
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Lacey Stone lag noch einen Augenblick still im Bett und lauschte in die Dunkelheit hinein, nachdem der Wecker geklingelt hatte. Wie herrlich ruhig es im Haus war. Kein Stöhnen, Quengeln und Sabbern von nebenan. Kein Winseln und keine klagenden Geräusche mehr, wenn sie nicht sofort zur Stelle war. Niemand zwang sie jetzt noch, ihre Zimmertür offen stehen zu lassen, damit sie jederzeit gerufen werden konnte. Dabei hatte Sophie sie sowieso nicht rufen können, sondern stattdessen ein lautes, gurgelndes Geräusch ausgestoßen und mit der flachen Hand an die Wand geklatscht, wenn sie nach Lacey verlangte. Und sie hatte ständig nach ihr verlangt, wenn sie zu Hause war. Lacey sollte ihr Geschichten vorlesen, ihr beim Stapeln der bunten Holzbausteine helfen, sie mit Grießbrei füttern oder ihre eine neue DVD mit einem Zeichentrickfilm einlegen. Letzteres war noch am angenehmsten, denn anschließend konnte sie sich mit etwas Glück aus dem Zimmer schleichen. Wenn Lacey nicht daheim war, war für all dies Emma zuständig, eine staatlich bezahlte Pflegekraft, deren Unterstützung Lacey für die behinderte Schwester mehrere Stunden am Tag zustand, damit sie selbst arbeiten gehen konnte oder auch mal ein wenig Freizeit zur Erholung hatte. Emma war 65 Jahre alt gewesen, ausgebildete Krankenschwester und ein rechtes Biest, das häufig an Lacey herumkritisiert hatte. Küche und Bad seien nicht sauber genug, der Inhalt von Kühlschrank und Vorratskeller weder frisch noch vollwertig, und Lacey selbst sei angeblich permanent die personifizierte schlechte Laune, was nicht gut für die Verfassung der Schwester sei. Nebenbei war sie der Ansicht, dass Sophie Krankengymnastik brauchte, um die Beweglichkeit der Gelenke zu erhalten und den Muskelabbau zu bremsen, sowie Förderunterricht für ihre geistigen Fähigkeiten. Vielleicht lernte sie ja doch wieder ein paar Worte sprechen? Immer wieder setzte sie ihr zu, sich um diese Zweckdienlichkeiten für die Schwester zu kümmern.
Auch mit Sophie hatte sie stets in harschem Ton gesprochen. Warum die Schwester dennoch bei Emma meist friedlich gewesen war, verstand Lacey bis heute nicht. Während sie selbst ständig rennen musste, um die Schwester zufriedenzustellen, hatte Emma mit schöner Regelmäßigkeit am Küchentisch gesessen und Zeitung gelesen, wenn Lacey nach Hause kam, und Sophie war ruhig und offensichtlich gut versorgt gewesen. So lange, bis hinter Emma die Tür klappte. Dann hatte Sophies Gejammer und Genörgel das kleine Einfamilienhaus am Rande von Clifden sofort wieder erfüllt, sodass Lacey oft froh darum war, dass die nächsten Nachbarn an die 500 Meter entfernt wohnten.
Aber dies alles war jetzt vorbei. Ein gnädiges Schicksal hatte Sophie unerwartet und sozusagen über Nacht von ihrem tristen eingeschränkten Dasein erlöst und damit auch Lacey von einer Last befreit. Manchmal wurde das Leben eben doch etwas besser.
Lacey knipste die Nachttischlampe an und schob die Beine über die Bettkante. Es war neun Uhr abends. In einer Stunde begann ihr Nachtdienst in der Uniklinik in Galway. Wenn sie nicht zu spät kommen wollte, wurde es Zeit. Sie ging ins Bad, das direkt an das Schlafzimmer angrenzte, putzte sich die Zähne und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Rasch fuhr sie mit der Bürste durch ihr dunkles Haar, das in großen Locken auf ihre Schultern fiel, löschte das Licht und verließ das Bad. Am Fußende ihres Bettes hing das braune Wollkleid, das sie schon die letzten Tage getragen hatte. Es war schlicht und strapazierfähig, engte weder Bauch noch Busen ein, verdeckte ihre unförmigen Waden und genügte vollkommen für den Weg zur Arbeit.
Lacey ging in die Küche, schaltete gewohnheitsmäßig das Radio ein, setzte Teewasser auf und legte ein Croissant in den Tischbackofen, der auf der Arbeitsfläche stand.
Zwanzig Minuten später stieg sie in ihre kniehohen, gefütterten Winterstiefel aus schmucklosem braunen Wildleder, schlüpfte in ihre schwarze Steppjacke, die über ihren kräftigen Hüften spannte und knapp über dem Po endete, und verließ das Haus. Vor der Tür parkte der orange-rote R5, den sie von ihren Eltern geerbt hatte. Jetzt im Frühjahr waren die Nächte zwar noch kalt, aber nicht so kalt, dass sie den seltenen Frost befürchten musste, der sie zwang, die Scheiben freizukratzen, ehe sie losfuhr. So gestattete es sich Lacey, den Wagen nicht in die Garage zu fahren. Sie brauchte zwei Versuche, ehe das störrische Auto beim dritten Mal ansprang und gemächlich lostuckerte.
Zehn Minuten vor zehn Uhr stellte sie das Fahrzeug auf dem Parkplatz für die Angestellten hinter der Uniklinik ab und hastete zum Eingang. Sie atmete schwer und ihr Gesicht hatte eine ungesunde rote Farbe, als sie zwei Minuten nach zehn Uhr als Letzte ins Schwesternzimmer schlüpfte, wo Oberschwester Hanna vor zwei Kolleginnen stand und eben die Übergabe für die Nachtschicht machte. Hanna warf ihr einen missbilligenden Blick zu.
»Noch mal für Lacey, die es aus mir nicht erklärbaren Umständen nach wie vor nicht schafft, pünktlich zu sein. Heute Abend um zwanzig Uhr wurde ein Autounfall eingeliefert. Eine Person, männlich; dem Ausweis nach, den er bei sich trug, 25 Jahre alt. Der Mann heißt Jake Almond. Er ist momentan ohne Bewusstsein, wie es aussieht, aber glimpflich davongekommen. Er hat eine Gehirnerschütterung, eine zwanzig Zentimeter lange Schnittwunde am linken Bein, die genäht werden musste, sowie reichlich Kratzer und Prellungen. Wir haben versucht, Angehörige ausfindig zu machen und zu verständigen. Unter der einzigen Telefonnummer, die wir gefunden haben, geht aber niemand ran. Wir müssen abwarten, ob ihn jemand vermisst meldet, oder warten, bis er zu sich kommt. Er liegt auf Station II und damit in deinem Zuständigkeitsbereich, Lacey. Ansonsten hatte Grace Murphy heute Nachmittag einen Kreislaufkollaps, ist aber inzwischen wieder stabil …«
Lacey hörte nur noch mit halber Aufmerksamkeit zu. Inzwischen bekam sie wieder Luft, und ihr Puls, der von der Hektik des Umziehens und der Eile, noch rechtzeitig zur Schichtübergabe zu erscheinen, gejagt hatte, hatte sich wieder beruhigt. Dafür brannte nun der Zorn in ihr. Musste Hanna sie stets kritisieren und vor den anderen vorführen? Letzten Endes war sie nur zwei Minuten zu spät gekommen. Solange Sophie noch gelebt hatte, hatte sie für ihre Unzulänglichkeit noch ein wenig Verständnis erwarten können. Doch seit die Schwester nicht mehr war, war das vorbei. Hanna wies gern und ungeniert vor aller Ohren darauf hin, dass Lacey die einzige der Angestellten war, die keine Familie hatte, die berücksichtigt werden wollte, und dennoch öfter zu spät kam als andere mit Mann, Kindern und Schwiegermutter. Damit trat sie mitten in Laceys wunde Stelle.
»So, das war es«, schloss die Oberschwester ihre