Das Medaillon. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121971
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der Ofenbank eingeschlafen. Sie reckte sich und spürte jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper. »Wie war die Sitzung?«, fragte sie. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an.

      »O, es war ein Desaster«, sagte ihr Vater und sah plötzlich nicht mehr besorgt aus, sondern wütend. »Sie wollen es einfach nicht hören, jedenfalls nicht von einem Fuhlrott. Ja, wenn es Ihnen eine anerkannte Kapazität der Wissenschaft verkündet hätte, ein Spring oder ein Lyell oder ein de Perthes oder meinetwegen auch ein Anatom wie Schaaffhausen, dann hätten sie sich unter Umständen herabgelassen, die Sache in Erwägung zu ziehen. Aber ein hiesiger Realschullehrer und eine solche bahnbrechende Entdeckung, das ist vermessen, das muss ein Irrtum sein.«

      »Haben Sie Fuhlrott ausgelacht?«, fragte Rosalie und unterdrückte ein Gähnen.

      »Aber nein, nicht doch, sie haben ihn angehört und seine Gipsabgüsse mit großem Ernst betrachtet und mit ihren Fingern betastet, aber es war so ein Ausdruck in den Gesichtern, so ein spöttischer Glanz in den Augen ...«

      »Vielleicht täuschst du dich«, meinte Rosalie achselzuckend. Während sie geschlafen hatte, war das Feuer im Ofen endgültig heruntergebrannt und die Kälte war ihr in alle Gliedmaßen gekrochen. Sie kreuzte die Arme über der Brust und rieb sich mit den Händen über die Oberarme. »Immerhin ist es eine phänomenale Entdeckung, man kann es den Herren also kaum verübeln, wenn sie sie mit einer gewissen Skepsis betrachten.« Jetzt gähnte sie doch.

      »Nein, das kann man nicht. Dennoch«, sagte Kuhn. »Ich war doch dabei, ich weiß doch, wovon ich spreche. Wenn wenigstens Minter sich zurückgehalten hätte, der verflixte Apotheker.«

      »Minter?« Von einer Sekunde zur anderen verzog sich die Müdigkeit aus ihrem Kopf. »Ist er Fuhlrott etwa auch in den Rücken gefallen?«

      »Genau das«, sagte Kuhn finster. »Auch wenn es mitnichten seine Absicht war. Durch seinen blödsinnigen Affenvergleich hat er alles zunichte gemacht.«

      »Was hat er denn gesagt?«

      »Er stellte zur Diskussion, ob die Gebeine eine Übergangsform darstellten in der Entwicklungsreihe vom Affen zum Menschen. Dabei versuchte er seine These durch den absurden Hinweis auf die neue Affenart zu untermauern, die zu Beginn des Jahres im Westen Afrikas entdeckt worden ist.«

      »Eine neue Affenart?«

      »Der Gorilla-Affe, eine besonders kräftige Spezies der Menschenaffen, die sich teilweise vornübergebeugt auf zwei Beinen fortbewegt und aus der sich der Mensch herausentwickelt haben soll, Minters Meinung nach. Er verglich die Schädelkalotte aus dem Neandertal mit dem grobschlächtigen Tierschädel, ohne einen solchen allerdings vorweisen zu können, ach, es ist reine Spekulation und unserer Sache wenig dienlich ...«

      »Aber Schaaffhausen vertritt doch eine ganz ähnliche Theorie«, meinte Rosalie und zeigte auf die Broschur, die neben ihr auf der Ofenbank lag. »Er hält es für denkbar, dass wir einst aus der Tiergestalt hervorgegangen sind und findet nichts Verwerfliches an einem solchen Gedanken.«

      »Mag sein, dass er es für denkbar hält. Aber es gibt keinerlei Beleg für eine solche Annahme und als Wissenschaftler braucht man nun einmal Beweise für jede Behauptung. Und die kann Minter nicht vorweisen, weil sie nicht existieren, weswegen er lieber den Mund gehalten hätte. Im Falle unseres Schädels haben Schaaffhausens Vermessungen jedenfalls ergeben, dass die Größe des Gehirns bei weitem die des Gehirns der großen Menschenaffen übertrifft und der Gehirnmasse der Australier am nächsten kommt. Auch die Schädelform, die Augenbrauenwülste, in der Minter eine Ähnlichkeit zum Affen erkennen will, ist heute noch bei manchen tief stehenden Negervölkern verbreitet. Es ist also schlüssig, dass es sich um die Überreste eines der frühesten Bewohner Europas handelt, von einer allerdings sehr frühen Entwicklungsstufe.«

      »Das mag ja stimmen, aber es widerlegt Minter keineswegs.«

      »Er hat keine Beweise«, ihr Vater klang plötzlich ungeduldig. »Und durch seine unsachlichen Anmerkungen hat die ganze Sitzung eine äußerst unerfreuliche Wendung genommen.«

      »Du hast selbst gesagt, dass man die festgelegten Grenzen überdenken muss. Auch wenn man Gefahr läuft, dass einem sein Weltbild zusammenbricht.«

      »Ja«, sagte Kuhn. »Aber das mit dem Affen geht dennoch zu weit, das musst du doch zugeben.«

      Anfang April begann der Frühling. Am Sonntag, dem Tag, an dem Minter mit Rosalie sprechen wollte, war es bereits so warm und sonnig wie sonst erst im Mai.

      Rosalie war fest entschlossen, den Apotheker nicht zu treffen. Sie wusste ja, was er ihr sagen wollte: dass es keinen Sinn hätte mit ihnen beiden und dass er sich sein ungebührliches Verhalten in der Höhle selbst nicht erklären konnte. Vielleicht gab es eine andere, die er liebte, der er sich verpflichtet fühlte, vielleicht auch nicht, in jedem Fall wollte sie nichts davon hören, es interessierte sie nicht, warum er sie nicht wollte. Es war schlimm genug, dass er sie nicht wollte.

      Sie würde ihn kurz abfertigen, sachlich und kühl. Und ihn dann vergessen.

      Nach der Kirche wusch sie sich die Haare und während sie trockneten, bügelte sie ihr weißes Kleid mit dem roten Jacquarddruck auf. Es war nicht mehr ganz modern, aber es ließ ihr Gesicht sanfter und mädchenhafter erscheinen, zumindest empfand sie es so. Das alles tat sie nicht, weil sie ihre Meinung geändert hatte, sondern weil sie in dem kurzen Moment, in dem sie ihm gegenüberstehen und ihn abweisen würde, mustergültig aussehen wollte. Schön und stark und kalt. So sollte er sie in Erinnerung behalten.

      Um zwei ging die Türglocke. Sie zählte langsam bis zwanzig, bevor sie sich erhob, um nach unten zu gehen. Es tut mir leid, würde sie sagen. Ich werde nicht mit Ihnen kommen, es hat keinen Sinn. Und dann würde sie die Tür wieder schließen.

      Sie fand, dass er sehr blass und nervös aussah, als er vor ihr stand. Er hielt seinen schwarzen Hut in Brusthöhe und drehte ihn ein Stück nach links, dann nach rechts, wie ein Kapitän sein Steuerrad. »Wie freue ich mich, Sie zu sehen, Rosalie«, sagte er und lächelte ein wenig unsicher, aber voller Wärme. »Gehen wir ein Stück spazieren?«

      Da holte sie ihren Mantel und sie gingen los.

      Sie spazierten die Laurentiusstraße hinunter und bogen dann ins Mäuerchen ein, zu ihrer Rechten glitzerte die Wupper in der Frühlingssonne und verbreitete einen abscheulichen Gestank, der im Hals kratzte, wenn man ihn einatmete. Minter verzog das Gesicht.

      »Diese verfluchten Textilfabriken«, sagte er. »Die Farben und Bleichmittel machen den Fluss zur Kloake. In dieser Brühe schwimmt doch kein lebender Fisch mehr.«

      Rosalie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie als Kind noch in der Wupper gebadet hatte. Auch damals hatte es Baumwollfärbereien gegeben und vor der Stadt hatten die Bleicher die Stoffe in ihren stinkenden Bottichen eingeweicht, in die Sonne gelegt und anschließend im Fluss wieder ausgewaschen. Ihr Vater hatte ihr das Baden zwar verboten, zum einen, weil es sich für ein Mädchen nicht gehörte, in nassen Kleidern im Wasser herumzuhopsen, zum anderen, weil das Wasser damals schon Hautausschläge und Durchfall verursachte. Aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Wie eigentlich immer.

      Heute kam niemand mehr auf die Idee, im Fluss zu schwimmen. Von der Schossbleiche bis zur Hofaue reihte sich eine Textilfabrik an die andere. Jedes Unternehmen nutzte den Fluss, um seinen Unrat zu entsorgen, die Reste von Farben und Säuren und Giften, und drüben in Barmen sah es nicht anders aus.

      »Es ist überall das Gleiche«, sagte sie. »Hier wie im Neandertal. Die modernen Zeiten zerstören die Natur.«

      Minter nickte, aber er schien nicht bei der Sache zu sein. Vielleicht war es das Stichwort Neandertal, das ihn an den eigentlichen Grund ihres Spaziergangs erinnerte. Er runzelte die Stirn und beschleunigte seine Schritte, dann blieb er plötzlich stehen. »Hören Sie«, sagte er. »Das Missverständnis zwischen uns muss geklärt werden.«

      Sie begegnete seinen Augen und fühlte, wie sich ihr Innerstes auflöste. Alles in ihr schmolz, auch ihr Gehirn, weshalb ihr keine Antwort einfiel, und wenn ihr etwas eingefallen wäre, hätte sie es nicht sagen können, denn ihre Zunge und die Muskeln, die sie bewegten, waren ebenfalls weich und nutzlos.

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