»Fräulein Leder«, sagte Kirschbaum mit fester Stimme. »Ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Arbeit in letzter Zeit wenig zufriedenstellend war. Sie waren zerstreut und unaufmerksam und die Gründe dafür kenne ich ja jetzt. Nun kann ich Ihnen die Sorge um Ihre Tante nicht abnehmen, genauso wenig wie Ihr schlechtes Gewissen. Aber zumindest gegen Ihren Hunger lässt sich etwas ausrichten. Ich fordere Sie deshalb auf, des Mittags mit mir zu essen, vor oder nach dem Besuch bei Ihrer Tante. Unter anderen Umständen können Sie nicht mehr bei mir arbeiten.«
Seine kleinen Hände mit den kurzen Fingern hielten sich an der Kante des Schreibtischs fest, auf seiner Stirn und an den Schläfen glitzerten winzige Schweißperlen.
»Nun?«, fragte er.
»Also gut«, sagte sie und zog den Hut wieder vom Kopf. »Was gibt es denn?«
Sie sprach den Segen und er hörte zu, dann begannen sie zu essen. Es gab dicke Bohnen mit Liebstöckel und wie immer schmeckte das Essen ganz anders als alles, was sie kannte. »Diese jüdische Küche ist köstlich«, sagte sie, als ihr Teller leer war.
»Es ist nicht koscher.« Er tat ihr noch ein paar Löffel auf. »Ich koche nicht nach den Vorschriften.«
»Es ist dennoch köstlich.« Sie zögerte einen Moment lang, ob sie ihn fragen sollte, was sie sich selbst schon so lange fragte. Es ist die Stunde der Wahrheit, dachte sie schließlich. »Sie haben sich wirklich ganz gelöst, von Ihrer Familie, von Ihrer Religion?«
Er nickte und kaute und schluckte. »Aber ich habe den gleichen Fehler gemacht wie Sie.«
»Welchen Fehler? Wovon sprechen Sie?«
»Ich habe mich versteckt, ich bin ausgewichen, ich habe gelogen. Lange, lange Zeit. Endlich kam es doch zum Bruch, aber dann habe ich nicht nur meine Familie verloren. Sondern auch mich selbst.«
Seine Familie, dachte sie. Meinte er damit Vater und Mutter oder Frau und Kinder? Sie musste wieder an die weinende Frau denken, die sie dieses eine Mal gesehen hatte und dann niemals wieder. Es waren auch sonst keine Besucher mehr erschienen. Wer war diese Frau gewesen?
»Fräulein Leder«, sagte er. »Hören Sie auf zu lügen.«
»Wenn ich die Wahrheit sage, kann ich nicht mehr hierher kommen. Mein Vater würde es niemals billigen, niemals!«
»Was würde geschehen, wenn er die Wahrheit wüsste?«
»Er würde mich einsperren. Er würde mich eher totschlagen als klein beizugeben.«
Kirschbaum nickte, als habe er genau diese Antwort erwartet. »Also warten Sie lieber ab, bis sich die Sache von selbst klärt. Bis Ihre Eltern Sie hier in der Bibliothek sehen oder ein Freund oder ein Bekannter. Und alles ans Licht kommt.«
»Meine Eltern kommen niemals zur Alten Freiheit und hier im Viertel haben wir kaum Bekannte.«
»Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht«, sagte Kirschbaum.
Sie fühlte sich plötzlich elend und wütend und ratlos, alles zur gleichen Zeit. Was wollte Kirschbaum von ihr? Was maßte er sich an? »Sie sind ein Mann, Sie können Ihren Weg gehen, Ihnen steht alles offen. Aber ich bin abhängig von den Meinen.« Ihre Stimme klang rau vor Erregung, sie griff nach ihrem Glas, um einen Schluck zu trinken, aber ihre Hand zitterte so, dass sie das Wasser beinahe verschüttet hätte. »Es ist nicht so, dass ich gerne lüge, ich hasse es vielmehr und verabscheue mich selbst dafür. Aber ich will hier sein, ich will es einfach!«
Bei den letzten Worten war sie laut geworden, sie kannte sich selbst nicht wieder, aber Kirschbaum schien weder überrascht noch befremdet oder gar empört über ihre Unbeherrschtheit.
Er sah sie nur an, ruhig und ernst, mit seinen schönen, braunen Augen, und plötzlich waren ihre Wut und ihre ganze selbstgerechte Empörung verschwunden. Ihr wurde bewusst, dass er recht hatte, mit dem, was er gesagt hatte: dass sie im Begriff war, sich selbst zu verlieren. Und gleichzeitig wusste sie, dass sie dennoch weitermachen würde, weil ihre Angst zu groß war, die Wahrheit zu sagen.
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, dachte Dorothea.
Traugott hustete den halben Tag und die ganze Nacht. Die Arbeit in der Weberei bekommt ihm nicht, sagte Dorotheas Mutter. Sie verstand nicht, was ihr Vater antwortete, vermutlich sagte er, dass es keine Frage war, dass sie seinen Lohn bräuchten und er im Übrigen schon wieder auf die Beine käme. Aber Traugott kam nicht wieder auf die Beine, stattdessen begann er Blut zu spucken und Dorothea holte Dr. Kuhn, obwohl ihre Eltern die Heilung von Krankheiten sonst immer in die Hände des allmächtigen Gottes legten.
»Schwindsucht«, konstatierte Kuhn, während er sein Stethoskop von den Ohren zog. »Er braucht Ruhe, viel Ruhe, am besten Luftveränderung, die Berge oder das Meer, das wäre gut, ja, das würde ihn wiederherstellen.«
Herr Leder nickte verständnislos. »Kann man ihm denn nichts geben, das ihn wieder aufrichtet?«, fragte er dann.
Dr. Kuhn holte seinen Rezeptblock aus der Rocktasche und kritzelte darauf herum, in seiner großen, fahrigen Handschrift, dann riss er das Blatt schwungvoll ab und reichte es dem Vater. »Tropfen, die das Atmen erleichtern. Aber die Ruhe ist viel wichtiger, dass er mir nicht gleich in der nächsten oder übernächsten Woche in der Fabrik steht. Er muss sich ausheilen ...«
Er unterbrach sich und wie auf ein Stichwort setzte Traugott ein und begann zu husten, es klang rau und qualvoll wie eine Harke, die über einen Steinboden kratzt. Kuhn nahm das Stethoskop vom Hals und verstaute es in seiner bauchigen Tasche. Als er ging, reichte er allen die Hand, auch Dorothea, dabei wirkte er irritiert, als könne er sich nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit er sie schon einmal gesehen hatte.
Am nächsten Morgen ging sie noch vor der Arbeit zur Apotheke am Heckweiher. Ihr Herz klopfte unwillkürlich schneller, als sie Minter hinter dem Ladentisch sah, dabei war es doch Rosalie, die in ihn verliebt war und nicht sie selbst. Sie erwartete nicht, dass er sich an sie erinnerte, wenn nicht einmal Dr. Kuhn sie einordnen konnte, obwohl sie die beste Freundin seiner Tochter war, würde der Apotheker sie bestimmt nicht wiedererkennen, und so war es auch. »Ich muss die Tropfen erst mischen«, sagte er, nachdem er das Rezept einige Sekunden lang stirnrunzelnd betrachtet hatte. »Wollen Sie warten oder später noch einmal wiederkommen?«
Sie wartete, es dauerte eine ganze Weile lang, weil zwischendurch immer Kundschaft kam, die er bedienen musste. Jedes Mal warf er ihr einen halb entschuldigenden, halb ängstlichen Blick zu, als erwartete er, dass sie sich empörte oder weglief.
»Vielen Dank für Ihre Geduld«, meinte er schließlich. Sie nahm einen frischen, ein wenig bitteren Geruch an ihm wahr, als er ihr die Flasche reichte, wahrscheinlich waren es die Ingredienzien der Medizin.
»Bitte«, sagte er, als sie sich fast schon abgewandt hatte. »Können Sie Rosalie etwas ausrichten?«
Er hatte sie also doch erkannt. Und nun wollte er, dass sie die Vermittlerin spielte, die Kupplerin, die die Dinge zwischen ihm und Rosalie wieder ins Lot brachte. Nein, hätte sie am liebsten gerufen. Nein, sie würde nichts ausrichten.
»Sicher«, sagte sie stattdessen.
»Sagen Sie ihr, es tut mir leid. Sagen Sie ihr, ich muss sie sprechen.«
Sie nickte kurz und dann drehte sie sich um.
Seit Tobias morgens Wasserholen ging, traf Dorothea Rosalie nicht mehr täglich. Sie musste also abends bei ihr vorbeigehen, aber an diesem Abend war es bereits zu spät. Am nächsten Abend regnete es wie aus Kübeln und am Abend danach war Bibelandacht bei den Ostermanns und so verging ein Tag nach dem anderen, ohne dass Dorothea Minters Botschaft ausrichtete. Dabei war sie sich sicher, dass Rosalie den ganzen Tag an den Apotheker dachte und dass sie nachts gerne von ihm geträumt hätte, was aber vermutlich nicht geschah, denn man träumt nur sehr selten von Dingen, die man sich ersehnt, und viel zu oft von dem, was man lieber vergessen will.
Dorothea