Das Medaillon. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121971
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wollen, hätte er doch wohl dich getötet und nicht Hermann.«

      »Nein«, sagte Dorothea. »Er nimmt das, was einem am liebsten ist. Er hat auch den Ägyptern den erstgeborenen Sohn genommen und dem Pharao, denn damit traf Er sie am härtesten.«

      Das war vor vier Tagen gewesen und jetzt lag Hermann unter der Erde, ein Totengerippe, überklebt mit verweslichem Fleisch, wie Kohlbrügge es ausgedrückt hatte, und Rosalie lief nach Hause. Sie musste sich beeilen, denn heute war Dienstag. Dienstags tagte immer der Naturwissenschaftliche Verein und damit er pünktlich zu den Sitzungen kam, erwartete ihr Vater sein Abendbrot eine Stunde früher als sonst und das Mittagessen eine halbe Stunde früher, damit eins zum anderen passte.

      »Heute Abend geht es wieder einmal um die Gebeine aus dem Neandertal«, sagte Kuhn, als sie die Suppe löffelten. »Fuhlrott stellt Schaaffhausens Vermessungsergebnisse der Schädelkalotte vor, es ist sozusagen die Generalprobe für die große Präsentation vor dem Naturhistorischen Verein in Bonn, die er zusammen mit Schaaffhausen und Mayer bestreiten will.«

      »Nun, hier in Elberfeld wird es doch nicht allzu schlimm werden«, meinte Rosalie. »Im Verein erwartet ihn bestimmt ein wohlgesonnenes Publikum, das seinen Erkenntnissen mit dem größten Interesse begegnet.«

      Ihr Vater lachte kurz und trocken. »Ob wohlgesonnen oder nicht, der größte Teil der Anwesenden wird mit Befremden reagieren, wenn man einmal von Minter und mir absieht. Beschränken wir unsere Diskussionen endlich wieder auf angemessenere Gebiete, werden sie fordern. Fokussieren wir uns auf die verschiedenen Spezies der Primula oder auf die Vogelfauna des Wuppertales oder auf die Rückenwirbel der Klapperschlange, denn das sind die richtigen Themen für einen Verein christlich gesonnener Männer.«

      Rosalie rührte in ihrer Suppe und spürte dem Schmerz nach, den der Name Minter in ihr auslöste. »Und ich dachte, ihr wäret so aufgeschlossen.«

      »Aufgeschlossen im Rahmen des Akzeptierten«, sagte Kuhn. »Aber die festgelegten Grenzen wagt man nicht zu überdenken. Die Herren haben wohl Angst, dass dann ihr ganzes Weltbild zusammenbrechen könnte.«

      Nachdem der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, fegte Rosalie das Wartezimmer und ärgerte sich über die Leute, die mit ihren schmutzigen Stiefeln ins Haus trampelten und einfach auf den Boden spuckten, obwohl sie überall Spucknäpfe aufgestellt hatte und ihr Vater allen seinen Patienten predigte, dass das Ausspucken unhygienisch sei, eine ekelerregende Unart, die nicht in die moderne Zeit passte.

      Danach trat sie auf die Straße, legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Himmel war ein schwarzes Tuch mit hellgelben Punkten. Sie dachte an Minter, wie immer, wenn sie zur Ruhe kam, und stellte sich vor, dass er neben sie trat.

      »Guten Abend, Rosalie.« Ihr Kopf fuhr herum. Der Apotheker stand unter einer Laterne, nur ein paar Meter von ihr entfernt. In dem kalten Gaslicht sah er aus wie eine Geistererscheinung, das Gesicht so fahl. Aber es gab keine Geister, also war er es wirklich.

      »Was ... was wollen Sie denn hier?« Ihre Stimme klang feindselig. Ihr war auf einmal kalt.

      »Ich wollte Ihren Vater abholen, wir wollen gemeinsam zur Vereinssitzung.«

      »Kommen Sie«, sagte sie, und griff nach ihrem Besen. Sie trat vor ihm ins Haus. Als sie im hellen Licht der Öllampe stand, wurde ihr bewusst, wie sie aussah. Sie hatte die Haare straff nach hinten gekämmt und unter einem Tuch versteckt, nichts lenkte von ihrer großen Nase und der hohen Stirn ab. Hässlich wie ein Waschweib.

      „Mein Vater ist oben“, sagte sie. „Sie kennen den Weg.“

      Er ging aber nicht nach oben, sondern machte einen Schritt auf sie zu und legte seine Hand auf ihren Arm. »Rosalie«, sagte er. »Es tut mir so leid, was geschehen ist.«

      »Ach ja?« Mit einem Mal fand sie es richtig, dass ihr Gesicht hart und kantig aussah, so war sie in ihrem Innersten und so trat es zu Tage. »Was ist denn geschehen?«

      Er ging nicht auf ihre Frage ein, sondern sah sie nur an, vielleicht dachte er über ihre Hässlichkeit nach. »Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er.

      Sie zuckte mit den Schultern

      »Am nächsten Sonntag«, meinte er. »Nach dem Mittagessen.«

      Dann nickte er kurz, als wäre alles zwischen ihnen geklärt, und ging ohne ein weiteres Wort zur Treppe und nach oben.

      Sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Sie lag im Bett, atmete ein und wieder aus und starrte in die Dunkelheit und malte sich endlose, sinnlose Unterhaltungen mit Minter aus und Situationen, in denen sie sich begegneten, alltägliche und verrückte und geradezu widersinnige Situationen, die aber alle gleich endeten. Er hielt sie und sie hielt ihn.

      Nach einer Stunde schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und Pantoffeln und ging ins Kaminzimmer. Sie warf noch eine Schütte Kohle auf die Glut, obwohl es schon nach Mitternacht war. Setzte sich dann auf die Ofenbank, die Wärme der Kacheln im Rücken.

      Sie blätterte in einer Broschur, die ihr Vater aufgeschlagen auf dem Tisch hatte liegen lassen. »Über die Beständigkeit und Umwandlung der Arten.« Der Verfasser war Hermann Schaaffhausen, der Professor, den Fuhlrott in Bonn besucht hatte, um ihm die Knochen aus dem Neandertal zu zeigen.

      Am Anfang überflog sie die Zeilen nur, weil sie erwartete, dass der wissenschaftliche Text zu kompliziert für sie wäre, dann stellte sie überrascht fest, dass sie alles verstand. Dieser Schaaffhausen vertrat die Ansicht, dass sich alle Arten, ob Pflanzen oder Tiere, seit ihrer Entstehung im Wandel befanden. Auch die Menschen schloss er aus diesem Prozess nicht aus, er hielt es im Gegenteil sogar für wahrscheinlich, dass der Mensch in Tiergestalt geschaffen worden war und erst nach und nach, im Laufe von Jahrtausenden, seine heutige Vollendung erreicht habe. Kein Wunder, dass ihn die Knochenfunde so interessieren, dachte Rosalie. Der affenähnliche Schädel mit seinen Wülsten über den Augenhöhlen und die groben, schweren Knochen untermauerten seine These. Die Kreatur aus der Feldhofer Grotte war demnach eine frühzeitliche Station auf dem Weg zur Perfektion, ein Stein im Mosaik der menschlichen Entwicklung zur heutigen Vollkommenheit.

      Rosalie musste plötzlich an die erste Unterhaltung denken, die ihr Vater, Fuhlrott und Minter geführt hatten, im Sommer, hier in diesem Zimmer. Minters eigenartige Holzfällertheorie, seine Annahme, dass eine Generation ihre erworbenen Fähigkeiten an die nächste weitergab. Auch er hatte damals von einer Entwicklung gesprochen und in einem Punkt war er sogar noch weitergegangen als Schaaffhausen, wenn sie es richtig in Erinnerung hatte. Der Prozess ist niemals abgeschlossen, hatte er gesagt. Alles geht immer weiter.

      Die beiden Doktoren hatten mit Skepsis reagiert und das mit gutem Grund. Denn wenn Minters Aussage stimmte, dann war der Mensch eben nicht die Krone der Schöpfung, für die er sich hielt. Irgendwann einmal, in einem weit entfernten, unvorstellbaren Zeitalter würde er sich vielleicht dem annähern, wonach er seit Anbeginn der Welt strebte: seinem Ideal, Gottes Ebenbild. Aber von diesem Stadium unterschied sich der heutige Mensch so stark wie die Kaulquappe vom Frosch.

      Sie ließ das Heft auf ihren Schoß sinken und schauderte. Wenn Minter recht hatte, dann waren sie selbst und er, ihr Vater und Fuhlrott, dann waren alle heutigen Menschen – nichts. Dann waren sie wertlos im Vergleich zu den herrlichen Wesen, die sich im Laufe der Zeit herausbilden würden. Die wiederum ihrerseits nichts waren im Hinblick auf die Entwicklung, die die Generationen nach ihnen durchlaufen würden. Denn der Prozess war ja niemals abgeschlossen.

      Sie legte Schaaffhausens Aufsatz zur Seite, umschlang die kalten Beine mit den Armen und stützte ihr Gesicht auf die Knie. Die flackernde Öllampe auf dem Kaminsims warf bedrohliche Schatten an die Wand. Vielleicht war es falsch, die verschiedenen Stufen der Menschheit, die Formen der Entwicklung in ihrer chronologischen Reihenfolge zu sehen und zu bewerten, dachte Rosalie. Vielleicht war jede Entwicklungsstufe nur eine Antwort auf ihre jeweilige Zeit. Und darüber hinaus waren alle gleich viel wert oder gleichermaßen wertlos, wie man die Sache eben betrachtete. Sie alle waren Menschen, Brüder und Schwestern, der Tiermensch aus dem Neandertal, der zukünftige Mensch und sie selbst auch.

      Sie spürte Hände auf ihren Schultern und als sie aufsah, stand ihr Vater vor ihr, mit weit geöffneten, besorgten