»Warum darf dein Vater nicht von ihm wissen?«, frage Dorothea. »Die beiden verstehen sich doch so gut, wäre er nicht erfreut über eure Verbindung?«
Rosalie zuckte mit den Achseln. »Es gibt auch viel Trennendes zwischen ihnen«, sagte sie dann. »Minter ist ihm zu radikal in seinen Ansichten.«
Aber das war nicht der Grund, warum sie ihrem Vater die Zusammentreffen mit dem Apotheker verschwieg, dachte Dorothea. Es gab einen anderen Grund, warum die Verbindung geheim bleiben sollte.
»Pass auf, was du tust, Rosalie«, meinte sie ernst.
Rosalie wirkte einen Moment lang, als wollte sie in Tränen ausbrechen, aber dann lachte sie, ein kurzes, spöttisches Lachen. Wie recht sie hatte.
Dorothea war die Richtige, so zu reden.
Die Kirche in der Deweerthstraße war schlicht und streng und ernst. Mochten sich andere Gotteshäuser zum Himmel türmen oder aufplustern wie Pfauen, die Kirche der Niederländisch-Reformierten blieb am Boden. Der Glockenturm auf dem Vorbau mit seiner einsamen Glocke, die nur die volle Stunde schlug, überragte das Dach des Mittelschiffs nur um wenige Zentimeter. Hochmut, sagte das Gebäude jedem, der es hören wollte, Hochmut ist im Angesicht Gottes fehl am Platze. Wer Ihn ehren will, der senke die Augen und übe sich in Demut und Bescheidenheit.
Auch innen war die Kirche schlicht. Ein rechteckiger Saal mit flachen Kassettendecken und weiß getünchten Wänden. Eine hölzerne Kanzel, zu der eine leicht geschwungene Treppe hinaufführte. Hölzerne Liedbretter an den Wänden, ansonsten kein Bild, kein Ornament, kein Schmuck.
Gerade weil der Raum so niedrig war, erschien er in seiner Ausbreitung umso beeindruckender. Die vielen Sitzreihen, eine dunkelbraune Bank hinter der anderen und davor eine Reihe Stühle und das große, freie Podium unter der Kanzel, auf dem bei Abendmahlfeiern die Tische aufgebaut wurden.
Dorothea ließ sich neben ihrer Mutter im Mittelteil des Saales nieder, während sich ihr Vater und die Brüder auf die rechte Seite setzten, denn beide Seitenflügel waren den Männern vorbehalten. Sie faltete die Hände und schloss die Augen. In der Dunkelheit hinter ihren Lidern jagten die Gedanken durcheinander. Rosalie und der Apotheker. Tante Lioba und Kirschbaum. Wohin sie auch dachte, überall waren Geheimnisse, Lügen, Dinge, über die man nicht sprach, über die man nicht sprechen durfte. Herr, mein Gott, dachte sie, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast, und sie spürte, wie sich ihre Gedanken ordneten und dahinglitten wie ein ruhiger Fluss.
Dann legte sich die Hand ihrer Mutter auf ihren Unterarm, ihre Gedanken fuhren auseinander, sie riss die Augen wieder auf. Frau Leder saß ganz aufrecht da, aber ihr Kopf machte eine winzige Bewegung zur rechten Seite, und als Dorotheas Augen ihr folgten, sah sie einen jungen Mann, dunkel gekleidet, in eine Bank treten. Er senkte den Kopf zum Gebet, dabei schlossen sich seine Hände um seinen schwarzen Hut
»Der junge Packenius«, flüsterte ihre Mutter. »Er ist wieder zurück.« Dorothea hatte von ihm gehört. Andreas Packenius, der Missionar. Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie, seine Leute gehörten zu den angesehensten Gemeindegliedern, obwohl sie erst vor einigen Jahren in die Niederländisch-reformierte Kirche eingetreten waren.
Der junge Packenius war in Afrika gewesen, um dort die Heiden zu missionieren. Jetzt aber war er zurück. Das harte Tageslicht, das aus dem Rundbogenfenster auf sein Gesicht fiel, ließ seine braune Haut fahl erscheinen, als wäre er geschminkt.
»Starr nicht so hinüber zu ihm«, flüsterte ihre Mutter, obwohl sie es gewesen war, die Dorothea auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Dorothea blickte hastig nach vorn, dann begann die Orgel zu spielen.
Nach dem Gottesdienst ging die ganze Familie mit zu Tante Lioba, aber sie quälten sie jetzt nicht mehr mit Bibellesungen und endlosen Gebeten. Lioba hätte sie gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, sie lag jetzt nur noch im Bett und verschlief den halben Tag, röchelnd und schnaubend, sie kämpfte um jeden Atemzug. Dorothea hatte manchmal das Gefühl, dass sie es nur ihretwegen tat, dass die Tante weiterlebte, damit sie selbst auch weiterleben konnte.
»Gott segne dich, Lioba«, sagte Herr Leder, während er an das Krankenbett trat und auf die Schwester seiner Mutter herabblickte. Tante Lioba machte ein leises, schmatzendes Geräusch mit den zahnlosen Kiefern und drehte den Kopf weg.
Das Verhältnis zwischen ihrem Vater und der Tante war nie wirklich gut gewesen. Dorothea war neun Jahre alt, als sie hier weggezogen waren, aber sie erinnerte sich noch gut an die Auseinandersetzungen. Kein lauter Streit, sondern Wortwechsel, die sanft begannen und im Ton immer schärfer wurden, bis das Gespräch abbrach und man sich beleidigt zurückzog. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter die Schultern hochzog und den Kopf duckte, wenn es wieder anfing. Dorothea hatte nie verstanden, worum es ging, warum die beiden nicht miteinander auskamen. Es war die Zeit, in der sich die Niederländisch-Reformierten von der offiziellen reformierten Gemeinde abgespalten hatten. Tante Lioba war damals den Schritt nicht mitgegangen, vielleicht war das ja der Grund der Missstimmung gewesen. Sie hätte Lioba zu gerne danach gefragt, aber jetzt war es zu spät. Jetzt konnte sie ihr nicht mehr antworten und von ihrem Vater würde sie niemals etwas erfahren.
»Heute Abend lädt Familie Packenius zur Andacht in ihr Haus«, sagte Frau Leder, nachdem sie Tante Liobas schlaffe Hand ergriffen und dann wieder weggelegt hatte.
»Ich kann aber nicht dabei sein«, erklärte Dorothea. »Ich habe Walpurga freigegeben, sie ...« ... hat in der letzten Zeit so viel gearbeitet, wollte sie fortfahren, gerade noch rechtzeitig biss sie sich auf die Lippen. »Sie hat zu tun.«
»Sie hat zu tun?«, wiederholte ihr Vater befremdet. »Heute am Sonntag? Was gibt es da zu tun?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Dorothea. »Vielleicht möchte sie selbst zur Kirche, immerhin hat sie unseretwegen schon den Gottesdienst verpasst.«
Dagegen war nichts zu sagen, ihre Eltern sahen dennoch unzufrieden aus und Dorothea bemerkte, wie sie einen schnellen Blick wechselten. »Es ist aber nicht angebracht, dass du ständig fehlst bei der Andacht«, meinte ihr Vater. »Tobias bleibt bei Tante und du kommst mit uns.«
Also war das entschieden.
Die Packenius’ wohnten auf der Marienstraße, nicht weit von Tante Liobas Häuschen entfernt, aber es war eine andere Welt. Das Haus stand breit und selbstgefällig da, die Fassade verziert mit steinernen Balkons, Rundsäulen und Friesen über den Fenstern, die Front endete in einem eleganten Giebel, dessen Spitze zum Himmel zeigte wie der Finger eines eifrigen Schulkindes.
Dorothea zählte die Stufen der Steintreppe, die von der Straße zur Haustür führte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dann waren sie oben und ihr Vater zog am Band der Glocke, die aussah, als wäre sie aus Messing, aber vielleicht war sie auch aus Gold. Er wirkte ein wenig eingeschüchtert, obwohl sie doch alle Brüder und Schwestern in Gott waren, Glieder derselben Gemeinde. Eine Familie.
Ein Dienstmädchen öffnete die Tür, sie trug ein weißes Häubchen, das ihr schwarzes Gesicht noch dunkler erschienen ließ. Herr und Frau Leder starrten sie an, als wäre sie der Leibhaftige.
»Zur Andacht«, stammelte Herr Leder.
»Bitte schön«, sagte das Mädchen und ging vor ihnen her, durch einen Vorraum mit Marmorboden in einen breiten Korridor, dann standen sie vor zwei Flügeltüren mit Einsätzen aus honigfarbenem Glas, durch das man nicht hindurchblicken konnte. Das gelbliche Licht hellte das Gesicht des Mädchens auf, ihre Haut sah warm und braun aus, als sie eine Tür aufzog und zurücktrat, um ihnen den Vortritt zu lassen. Herr Leder zögerte einen Moment lang, bevor er losging, und seine Frau und Dorothea und Traugott folgten ihm.
Der Saal war mit dunklem Holz verkleidet und voller Menschen, die meisten von ihnen einfache Leute wie sie selbst. Schwarz und schlicht gekleidet, Männer und Frauen. Dorothea sah den Hausherrn im Gespräch mit zwei der Ältesten, den Brüdern von der Heydt. Als er Herrn Leder erblickte, winkte er sie zu sich heran.
»Wie schön, dass ich Sie begrüßen darf«, sagte Packenius, als habe er die ganze Zeit