Sven schüttelt den Kopf und wendet sich wieder seinem Spiel zu. »Das glaube ich dir sogar. Aber es reicht einfach nicht mehr, dass es dir hinterher leidtut. Irgendetwas muss sich ändern …«
***
Nach dem Mittagessen fliehe ich mit Leonie regelrecht aus dem Haus. Ich halte die eisige Stimmung zwischen Sven und mir einfach nicht länger aus. Da es nieselt, packe ich sie ins Auto und fahre zu meiner Mutter. Sie lebt nur eine viertel Stunde Autofahrt von uns entfernt in Hamburg-Bergstedt. Das ist aber nicht der einzige Grund, weshalb ich unbedingt in einem der Walddörfer wohnen wollte, den nordöstlichen Stadtteilen Hamburgs. Vielmehr wollte ich wieder dorthin zurück, wo ich selbst eine wundervolle Kindheit erlebt habe, inmitten der reichen Vegetation der Außenbezirke. Ich hatte eigentlich nie das Gefühl, in der Stadt groß zu werden, und das habe ich mir für meine eigenen Kinder auch gewünscht. Sven hat das verstanden und war bereit, aus dem Stadtzentrum wegzuziehen, auch wenn es für ihn bedeutet, dass sein Weg zur Arbeit sich damit verdoppelt. Als wir dann unser schnuckeliges Haus in Volksdorf gefunden haben, war mein Glück perfekt. Mein Herz krampft sich bei der Erinnerung daran zusammen. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich nur eineinhalb Jahre später ernsthaft um meine Ehe sorgen muss.
Leonie beginnt in ihrer Babyschale zu jammern. Sie ist ein quirliges kleines Mädchen und hasst es inzwischen, in dem engen Sitz eingepfercht zu sein. »Gleich, Süße, gleich sind wir bei Oma«, tröste ich sie und gebe etwas mehr Gas. Ich brauche jetzt dringend Ablenkung.
Keine fünf Minuten später sind wir da, doch ich zweifle inzwischen daran, dass meine Mutter überhaupt zu Hause ist. Ich werfe einen Blick durch die Verglasung der Eingangstür. Drinnen ist es ruhig. Natürlich … sonntags trifft sie sich ja immer mit ihren Freundinnen zum Poker.
»Sorry, Maus, du musst wohl noch eine Weile da drinbleiben.« Ich wende mich gerade wieder ab, als doch noch die Tür geöffnet wird.
»Annabell? Was führt euch denn her?« Hektisch streicht meine Mutter sich die zerzausten Haare glatt. Wahrscheinlich habe ich sie aus ihrem Mittagsschlaf aufgeschreckt.
»Entschuldige, wir wollten dich nicht stören.« – »Ach wo, kommt doch rein«, unterbricht meine Mutter mich und schenkt Leonie ein strahlendes Lächeln, das die Kleine sofort erwidert. »Ich habe mich nur ein wenig hingelegt, aber das kann ich ja auch später noch tun. Seit Birgit weggezogen und Margret wegen ihrem neuen Hüftgelenk in der Reha ist, bekommen wir einfach keine Pokerrunde mehr zustande und mir steht der ganze Sonntag zur freien Verfügung.«
»Birgit ist weggezogen? Davon hast du mir ja gar nicht erzählt …« Ich folge meiner Mutter ins Wohnzimmer und befreie Leonie aus ihrer verhassten Lage. »Warum triffst du dich dann nicht wenigstens mit Emma?« Die ist die Vierte im Bunde. Meine Mutter winkt genervt ab und lässt sich aufs Sofa plumpsen. Ich folge ihr beunruhigt und gebe ihr Leonie auf den Arm. Als wäre nichts, kitzelt meine Mutter sie unterm Kinn. Wie kann sie nur so gefasst sein? Neben den Kontakten zu ihren Freundinnen und mir hat sie niemanden. Mein Vater hat uns verlassen, als ich noch ein Baby war.
»Du weißt doch, wie Emma ist – alt und eingefahren. Wenn wir nicht Poker spielen können, bleibt sie am liebsten zu Hause«, antwortet sie beiläufig und konzentriert sich darauf, Leonie zum Lachen zu bringen.
Der Druck auf meiner Brust nimmt zu. Ich fühle mich für meine Mutter verantwortlich. »Sollen wir dich dafür am Sonntag besuchen kommen?« Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich das auch noch unterbringen soll, doch ich kann einfach nicht anders, als das vorzuschlagen. Die traurige Vorstellung, wie sie das ganze Wochenende allein daheimhockt, zwingt mich dazu. Auch bei ihrer Arbeit als Reinigungskraft im Krankenhaus an vier Tagen in der Woche hat sie nicht sonderlich viele Kontakte, da wegen der zunehmenden Stellenkürzungen kaum Zeit bleibt, mal ein Wörtchen mit den Patienten oder Pflegekräften zu wechseln.
Zu meiner Erleichterung schüttelt meine Mutter entschlossen den Kopf. »Ihr kommt doch schon jeden Mittwoch. Was würde Sven da sagen, wenn ihr am Wochenende auch noch weg seid, wo er doch endlich mal Zeit für euch hat?«
Ja, was würde Sven sagen? Vermutlich würde er sofort die Scheidung einreichen oder zumindest einen Ehetherapeuten aufsuchen. Ertappt starre ich auf meine Hände.
»Was ist, Annabell? Habt ihr Probleme?«
Natürlich durchschaut meine Mutter mich sofort. Schon als Kind konnte ich selten ein Geheimnis vor ihr wahren. »Es läuft momentan nicht besonders gut«, murmle ich. Meine Mutter legt mir sanft die Hand auf den Arm und etwas in mir zerbricht. Ich hatte nicht vor, ihr von meinen Sorgen zu berichten. Ihre mitfühlende Geste fühlt sich jedoch gut an. Meine Gedanken müssen einfach raus.
»Sven hat auf der Arbeit so viel zu tun, dass er fast jeden Tag später heimkommt, und wenn er dann endlich da ist, streiten wir uns. Es ist wie verhext. Ich freue mich auf ihn, doch kaum steht er vor mir und macht den Mund auf, könnte ich ihm ins Gesicht springen. Ich weiß auch nicht, warum ich so empfindlich bin, aber ich habe ständig das Gefühl, dass ich nichts richtig machen kann.«
»Ist doch klar, du hast in deine neue Rolle noch nicht richtig hineingefunden. Man sagt ja immer, dass das beim ersten Kind am schwersten ist.« Meine Mutter legt mir den Arm um die Schultern und mustert mich forschend. »Oder ist da noch mehr?«
Leonie schaut mit ernsten Augen zu mir auf, als wolle sie mich fragen, ob ich lieber zurück in mein altes Leben wolle. Das schlechte Gewissen regt sich wieder in mir. Sie ist ein geliebtes Kind, unser beider Wunschkind. Ihr ergeht es anders als mir, als ich ein Baby war. Ich schüttle abwehrend den Kopf. Wie konnte ich nur so unbedacht meine Gefühle hinausposaunen? »Sven ist nicht wie Papa.«
»Das weiß ich doch …« Trotz der Überzeugung, die sich hinter ihren Worten verbirgt, klingt meine Mutter erleichtert. Kein Wunder. Was sie in ihrer Ehe erlebt hat, wünscht sich keine Mutter für ihr Kind. Ich habe meinen Vater nie richtig kennengelernt, aber was ich von ihr über ihn weiß, reicht aus, um froh darüber zu sein. Zwanghaft, kontrollsüchtig, jähzornig. Und als sie genug davon hatte, jede Handlung von ihm kontrollieren zu lassen und jedes Abweichen von seinen Erwartungen zu rechtfertigen, um nicht seine Wut auf sich zu ziehen, hat er seine Sachen gepackt und uns verlassen. Sie war ihm nicht perfekt genug, ich war es nicht … Wir haben ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Nur zu meinem Geburtstag schreibt er mir jedes Jahr eine Karte, was ich aber mehr seinen Zwängen zuschreibe als seiner Zuneigung.
»Wo liegt dann das Problem?«, hakt meine Mutter nach.
Ja, wo liegt es überhaupt? »Unser Alltag ist zu voll geworden«, antworte ich nachdenklich. Meine Mutter legt fragend die Stirn in Falten.
»Ich meine, Leonie beansprucht mich voll und ganz, was ja auch in Ordnung ist, sie ist ein Baby … Aber ich schaffe es kaum, daneben auch noch den Haushalt zu führen. Für Sven bleibt da unterm Strich nicht genug übrig.«
Meine Mutter lächelt und setzt Leonie auf ihrem anderen Bein ab, weil sie ständig nach meinen Haaren greifen will und dabei fast von ihrem Schoß fällt. »Sven ist also eifersüchtig?« Versonnen schüttelt sie den Kopf. Sie kennt ihn gut genug, um zu wissen, wie intensiv er ist und wie hart es für ihn sein muss, nur noch an zweiter Stelle zu stehen. »Dann wird er wohl lernen müssen, hintanzustehen. Ihr wollt bestimmt noch mehr Kinder«, sagt sie tatsächlich trocken.
Doch irgendwas daran passt mir nicht. Sven ist ja bereit zurückzustecken und bietet mir sogar seine Unterstützung an. Ich reibe mir über die Schläfen, um die aufsteigenden Kopfschmerzen zu verdrängen. Sven und ich sehen uns mehr denn je, wir haben eine wundervolle Tochter, sind alle kerngesund und stehen finanziell nicht unter Druck. Was verdammt noch mal stört mich also so, stört Sven so, dass es unsere Beziehung derart belastet?
»Es liegt nicht nur an ihm. Mir gefällt es genauso wenig, wie sich unsere Beziehung durch Leonie verändert hat. Ich meine, er fehlt mir. Selbst wenn er da ist, haben wir kaum Zeit füreinander.« Das wir fehlt mir. Sven und Annabell, das Paar. Es tut gut, das mal auszusprechen, aber es macht mich auch traurig. Ich habe mir so sehr ein Kind gewünscht und war völlig verzweifelt, als es über ein Jahr gedauert hat, bis Leonie entstanden ist, und jetzt bin ich unzufrieden? Ich schüttle verzagt den Kopf.
»Ich