Svens Miene verzieht sich gequält, er schließt mich in seine Arme. Halt suchend, ohne den Trost zu finden, den ich so dringend brauche, lehne ich mich an ihn.
»Du bist eine richtige Zicke geworden, das stimmt, aber du bist meine kleine Zicke«, flüstert er in mein Haar. »Ich liebe dich, Annabell, und daran wird sich auch nichts ändern. In guten wie in schlechten Zeiten, richtig?«
Ich nicke schniefend und weine Svens T-Shirt nass. »Richtig. Aber wenn es so bleibt?«
»Wir finden eine Lösung, das verspreche ich dir«, murmelt Sven beruhigend und presst seine Lippen auf meinen Scheitel. »Aber jetzt gehst du erst einmal ins Gästezimmer und schläfst dich richtig aus, in Ordnung? Morgen ist Samstag und ich kann mich heute Nacht um Leonie kümmern.«
Ich will widersprechen, doch ich will auch die vertrauensvolle Stimmung nicht zerstören, die ich in Svens Gegenwart schon lange nicht mehr empfunden habe. »In Ordnung.«
Als ich kurz darauf im Gästebett liege, hat sich der Funken Zuversicht in meiner Brust bereits wieder verflüchtigt. Worte können unser Problem nicht lösen. Es ist, als hätte die veränderte Lebenssituation uns aus dem Takt geworfen. Dabei sollte es jetzt eigentlich einfacher sein, nachdem ich keine Schichtarbeit mehr schiebe und Sven und ich uns viel häufiger sehen. Dennoch scheint es, als lebten wir aneinander vorbei – jeder in seiner eigenen Welt – und wir schaffen es nicht, sie zusammenzubringen. Begegnen wir uns an den Berührungspunkten, versuchen wir es angespannt, was jedoch immer häufiger in einem Desaster endet. Und es wird immer schlimmer …
***
Als ich am nächsten Morgen blinzelnd erwache, ist es bereits taghell im Gästezimmer, in dem Sven während Leonies schwierigen Phasen nächtigt, um fit für die Arbeit zu sein. Doch ich war so erschöpft, dass nicht mal der Sonnenschein mich aufgeweckt hat. Benommen werfe ich einen Blick auf den Wecker und fahre hoch. Schon nach neun! Leonie hat bestimmt Hunger.
Schnell stehe ich auf und tapse leise – für den Fall, dass sie doch schon wieder im Bett liegt und ihren Vormittagsschlaf hält – in den Wohnraum. Am Esstisch sitzt Sven mit unserer Kleinen und füttert sie. Befangen bleibe ich stehen und betrachte das harmonische Bild, das die beiden abgeben.
Sven regt sich nicht mal auf, als Leonie wieder einmal den Brei auf dem Tisch verteilt und mit ihren pummeligen Fingerchen darin herummatscht, sondern wischt die Unordnung lachend auf. Ich beneide ihn um seine Gelassenheit. Als spüre er meinen Blick, dreht er den Kopf in meine Richtung und lächelt erfreut.
»Schau mal, Maus, die Mami ist auch schon wach.« Leonie quietscht ausgelassen, als sie mich sieht, und streckt ihre Arme nach mir aus. Ermutigt von dem freundlichen Empfang stoße ich mich vom Türrahmen ab und geselle mich zu meiner kleinen Familie. Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen, dass Sven eine schlimme Nacht hinter sich haben muss. Und dass wir uns gestern fast nur gestritten haben, macht die Sache auch nicht besser.
»Morgen, ihr zwei. Warum habt ihr mich nicht geweckt?« Ich gebe Leonie einen Kuss und setze mich auf den Stuhl neben ihrem Hochstuhl. Sven räumt die Breischale ab und haucht mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Schläfe.
»Wieso sollten wir? Wir hatten alles im Griff … Magst du einen Kaffee?« Ich nicke dankbar. »Ja, gern. Wie lange habt ihr denn geschlafen?« Dass Sven ohne mich bestens mit unserer Tochter zurechtkommt, gibt mir ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Es ist doch eigentlich meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern. Meine einzige.
Sven drückt auf den Knopf des Kaffeevollautomaten und gibt ein Stück Zucker und einen kleinen Schuss fettarme Milch in die Tasse. Natürlich weiß er genau, wie ich meinen Kaffee trinke, immerhin kennen wir uns jetzt schon seit zwölf Jahren. Elf davon sind wir ein Paar, vier verheiratet.
»Die Nacht war echt heftig und um sechs endgültig vorbei. Leonie war ständig wach und wollte trinken, dann hat sie aber nur ein paar Schlucke Milch genommen und konnte kaum mehr einschlafen, ständig hat sie den Schnuller verloren …«
Ich nicke wissend. »So geht das schon seit einer Woche. Ich glaube langsam wirklich, dass die oberen Schneidezähne durchbrechen.« Leonie hat erst zwei Mäusezähnchen. Aber als die kamen, war es genauso wie jetzt.
Sven stellt mir den Kaffee vor die Nase und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. »Ich weiß echt nicht, wie du das tagelang am Stück aushältst. Ich würde das nicht packen, und dann auch noch jeden Morgen pünktlich aufstehen.«
Ich lächle geschmeichelt, seine Anerkennung tut mir gut und ich fühle mich nach der ungestörten Nacht ungewohnt entspannt. Dennoch habe ich das Gefühl, seine Bewunderung nicht zu verdienen. »Irgendwie muss es ja gehen, letztendlich habe ich keine andere Wahl«, murmle ich verlegen und nehme einen Schluck Kaffee. Stark und heiß rinnt er mir belebend die Speiseröhre hinunter.
Sven greift nach seiner eigenen Tasse, die schon an seinem Platz steht, und nippt ebenfalls daran. »Wieso fällt es dir so schwer anzuerkennen, dass du das einfach fabelhaft machst, Annabell? Du kümmerst dich liebevoll um Leonie, das Haus ist immer ordentlich und sauber und du lässt dich kein bisschen gehen. Nimm es doch einfach mal an, wenn ich dir sage, dass ich dich dafür bewundere.«
Ich verziehe nachdenklich den Mund. Letztendlich ist es genau das, was ich wollte: Svens Anerkennung. Dennoch fällt es mir schwer, seine Worte ernst zu nehmen. Das Problem liegt bei mir, nicht bei Sven. »Vielleicht liegt es daran, dass ich so viel Kraft dazu benötige. Ich habe immer das Gefühl, dass es anderen Müttern leichter fällt, das alles zu bewältigen.«
Sven macht eine abwehrende Handbewegung und sieht mir aufmerksam in die Augen. »Vergiss das lieber mal ganz schnell. Du kannst nicht in andere reinschauen, und vielleicht denken sie ja dasselbe über dich.«
Mein auf Abwehr gepoltes Hirn arbeitet auf Hochtouren, doch dem kann ich einfach nicht widersprechen. Da ich dennoch das Gefühl habe, nicht halb so gut zu sein, wie Sven mir einzureden versucht, erwidere ich nichts. Mein Mann scheint zu spüren, dass das Thema damit für mich beendet ist. Er reibt sich nachdenklich übers Kinn und mustert mich eingehend.
»Jetzt zu etwas anderem: Ich habe mir nach unserem gestrigen Gespräch ein paar Gedanken gemacht. Was hältst du davon, wenn du dich jetzt erst einmal in Ruhe fertig machst, wir dann zusammen einkaufen gehen und in der Videothek einen Film für heute Abend mitnehmen? Wir entkorken eine Flasche Wein, schieben eine Pizza in den Ofen und nehmen uns einfach mal wieder ganz bewusst Zeit für uns.«
… und sehen dabei fern, denke ich biestig, verkneife mir aber den Kommentar. Sven meint es gut, und wir haben schließlich nicht mehr die Möglichkeit, ganz spontan tanzen oder auswärts essen zu gehen. Und einander im stillen Wohnzimmer gegenüberzusitzen und uns über unsere Partnerschaft zu unterhalten, wie es vielleicht mancher Ehetherapeut raten würde, ist bestimmt nicht unser Ding. Noch sind wir nicht soweit, denke ich und nicke zustimmend. »Das klingt nach einem guten Plan.« Ich stehe auf und schnappe mir meine Kaffeetasse, um mich für den Tag fertig zu machen.
***
»Also, soll ich jetzt den Film einschalten?«, fragt Sven, kaum dass wir fertig gegessen haben, und legt einen Arm um meine Schultern. Ich lehne mich glücklich an ihn und nicke.
Der Tag war gut. Sven hat sich mir gegenüber zuvorkommend und vorsichtig verhalten, nachdem er nun zumindest eine Ahnung davon hat, warum ich mich benehme, wie ich es tue. Ich mache mir nicht vor, dass das anhalten wird, daher genieße ich es in vollen Zügen. Spätestens wenn der Alltag uns am Montag wieder einholt und Sven wieder an seine Arbeit als IT-Unternehmensberater muss, wird er wieder mit seiner Verantwortung ausgelastet sein und keine Nerven mehr dafür übrig haben, sich ständig neu meiner sensiblen Gemütslage anzupassen. Doch für den Moment bin ich zufrieden. Die neue Tiefkühlpizzasorte war sehr lecker, der Rotwein ist gut und jetzt genieße ich Svens Zärtlichkeit. Vielleicht haben wir später sogar noch außerplanmäßigen Sex …
Gemütlich kuschle ich mich enger