Neil war ihr gefolgt, doch er sah sie nur verwundert an.
»Da obendrauf liegt der Pool«, erklärte sie.
»Oh«, machte er nur und starrte in den Himmel. Seine langen blonden Haare berührten ihre Schulter.
Linda widmete sich wieder dem Plan und fand Massage-Praxen, einen Ruheraum, ein Unterwasser-Lesezimmer, zwei Sport-Arias, ein Fitness-Center, einen Beach-Volleyball-Court und mehrere Tennisplätze. Hinzu kam eine Tauch-Station mit Angeboten wie Wasserski, Surfen, Jet-Ski und natürlich Tauchen.
Linda legte ihren Zeigefinger auf die Pool-Zeichnung. »Da sind Megan und Jason gerade.« Und ein warmes Gefühl durchflutete ihren Bauch, als sie an Jason dachte.
»Möchtest du dahin?«, riss Neil sie aus ihren Gedanken.
Jaaa, schrie ihre Lust, und Nein, rief ihr Verstand.
»Nein, ich denke, wir sehen uns mal die unteren Räume an. Unten soll ja auch das zweite Restaurant liegen, wo wir heute Abend essen werden.«
»Gut, ich mache alles mit.«
»Werde ich mir merken«, sagte Linda und grinste.
Neil wurde ernst. »Na, nicht, was du jetzt denkst. Wobei ...«
Linda lachte. »Komm, sehen wir uns mal den Massage-Raum an. Der liegt hier.« Ihr Finger deutete auf die Zeichnung. Dann drehte sie sich um und ging in Richtung Fahrstuhl.
Während sie fünf Stockwerke in die Tiefe fuhren, überkam Linda wieder dieses mulmige Gefühl. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass es abwärts ins Wasser ging. Obwohl ihr Zimmer auch unter Wasser lag, war es mit der Fahrstuhlfahrt noch etwas anderes. Sie wirkte so beklemmend. Neil machte keinerlei Anstalten, ihr nahe zu kommen, obwohl er sie ja schon geküsst hatte. Linda war erleichtert darüber.
Die Türen öffneten sich. Endlich! Vor ihnen lag ein langer Flur, der in einem hellen Beige beleuchtet war. Rechts und links gingen Türen ab. Linda betrat eine mit der Aufschrift: »Massage«. Und plötzlich verlor sich der beigefarbene Hotel-Charakter. Er machte Höhlen und Felsen Platz. Als wären beide plötzlich in einer ganz anderen Welt. Es war düster hier unten und Scheinwerfer mit rotem, grünem oder blauem Licht beleuchteten die Felsen spärlich. Es war auch viel kühler auf einmal. Ein Gefühl der Beklemmung ergriff sie wieder.
»Richtig unheimlich hier«, sagte Neil und Linda zuckte zusammen, weil sie an ihn nicht mehr gedacht hatte.
»Ja, finde ich auch«, pflichtete sie ihm leise bei. Langsam ging sie weiter, duckte sich, um von einer Höhle in die nächste zu kommen. Irgendwo hörte man es tropfen. Das war mit Sicherheit absichtlich so gemacht.
»Mir gefällt das nicht. Ich gehe wieder zurück. Wollte sowieso lieber an den Strand«, sagte Neil.
Linda bekam einen Schreck. »Du willst mich hier doch wohl nicht allein lassen?!«
»Dann komm doch mit.«
»Ich möchte aber diese Massage-Räume sehen.«
»Ich nicht. Ich bin weg.« Damit drehte Neil sich um und schlüpfte unter den Höhlen durch. Linda hatte Mühe, ihm zu folgen, weil er so schnell war. Sollte sie so mutig sein und allein weitersuchen? Schließlich war es ja ein Hotel und keine Geisterbahn! Doch noch während sie hinter ihm herlief, traf sie auf ein bestimmt zwei Meter hohes und einen Meter breites Aquarium. Erstaunt blieb sie stehen.
»Neil, guck mal«, rief sie. Doch niemand antwortete ihr. Das Aquarium faszinierte sie sehr, von daher rief Linda nicht weiter nach ihm. Auf dem Boden des Aquariums befanden sich kleine Felsgesteine und ein altes kaputtes Spielzeugsegelschiff. Das Besondere aber war, dass dieser Segler aussah, als wäre er mal ein echter gewesen und nun auf dem Aquariumgrund verrottete. Fische schwammen drum herum. Und plötzlich löste sich ein Tier aus der Mitte des Felsens und kam auf Linda zugeschwommen. Es war ein riesiger Tintenfisch. Er bewegte sich langsam, elegant. Und als er nur noch ein kleines Stück von ihr entfernt war, knallte er drei seiner Arme auf die Scheibe. Linda schrie auf und wich zurück. Ihr Herz raste. Sie hatte das Gefühl, als würde er sie durch seine Mitte böse anfunkeln. Die anderen drei Arme legten sich mit auf die Scheibe und saugten sich genau vor ihr fest. Es gab plötzlich ein zischendes Geräusch. Linda schrie noch mal auf und rannte los, durch die Gänge. Sie suchte den richtigen Weg. Aber, oh Gott, sie wusste, dass sie hier nicht gekommen war! Dort drüben ... das sah in etwa so aus wie der Eingang, allerdings war er das nicht. Linda unterdrückte eine aufkeimende Panik. Ihr Handy. Sie würde Megan anrufen. Oder Jason. Mit zitternden Händen holte sie ihr Handy aus der Tasche. Es fiel ihr runter, dann gab sie mit zitternden Fingern ihre vierstellige Pin-Nummer ein und sah zu ihrem Entsetzen, dass sie keinen Empfang hatte. Ihre Atmung beschleunigte sich noch mehr. Sie war in einem Felsenwirrwarr mitten im Meer in einem Hotel gefangen und keine Menschenseele weit und breit, um ihr zu helfen. Und in einem Aquarium war ein riesiger Tintenfisch, der sie verschlingen könnte ... Sie versuchte, ruhiger zu werden, schaffte es aber nicht. Schritt für Schritt, sagte sie sich selber, doch ein Felsen reihte sich an den nächsten. Alles sah gleich aus, es gab einfach kein Entkommen. Oh Gott, niemand würde sie hier finden, niemand würde sie vermissen. Vielleicht war das hier so angelegt, um Hotelgäste einen nach dem anderen zu entführen, unbemerkt von der Außenwelt abzukapseln. Ihr kamen die Tränen. Das konnte doch nicht wahr sein! Das konnte sich nur um einen Streich des Schicksals handeln.
»Alles okay bei Ihnen?«
Linda schrie auf und zuckte zusammen. Ihr Körper fuhr herum. Sie konnte es nicht glauben! Da stand Bruce Parker. Sie stand wie angewurzelt, ihr Herz raste. Am liebste hätte sie sich in seine Arme geworfen, doch es ging plötzlich nichts mehr. Sie konnte sich keinen Millimeter mehr bewegen. Das Einzige, was sie schaffte, war keuchend zu atmen. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Hm ... okay, ich seh schon ...« Er ging einen Schritt auf sie zu und ihr Körper fing an zu zittern. Linda konnte sich nicht erklären, was mit ihr passierte. Er legte die Stirn in Falten. Langsam streckte er eine Hand aus, doch Linda nahm sie nicht. Sie hatte das Gefühl, sie könnte sich nie wieder bewegen. Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren. Ihr Atem ging nach wie vor stoßweise. Sie hatte keine Macht mehr über ihren Körper ...
»Schließen Sie Ihre Augen«, sagte er ruhig.
Linda reagierte nicht. Sie hörte nur ihren ruckartigen Atem und ihre Muskeln fingen an zu brennen ...
»Linda, ich würde gern mit Ihnen hier rausgehen. Oben scheint wunderbar die Sonne. Wir können in Ruhe etwas trinken gehen, den Tag genießen und uns einfach fallen lassen. Haben Sie Lust, mit mir hochzugehen?« Wieder reichte er ihr die Hand.
Linda starrte ihn an, wie das Kaninchen die Schlange. Bruce ging einen Schritt nach vorn. Er kam noch einen Schritt näher, fast konnte er ihren Arm berühren. Doch er ließ die Hand sinken und sagte: »Kommen Sie her, Linda.«
Sie regte sich nicht. Ihr Herz hämmerte in ihrem Kopf. Schwindel erfasste sie.
»Kommen Sie her.« Er öffnete einladend seinen Arm, als wollte er sie in eine Tanzhaltung nehmen. »Kommen Sie, es ist ganz leicht. Ich werde Sie auffangen.«
Linda wusste, dass mehrere Minuten vergingen. Ihre Atmung ließ sich nicht beruhigen. Seine Einladung war verlockend, aber ihr Körper gehorchte ihr einfach nicht. Wieso kam er nicht einfach zu ihr? Seine Augen fixierten sie. Sie focht einen inneren Kampf aus, kämpfte gegen die Macht der Angst, gegen ihre innere Sperre, gegen die Ohnmacht, sich nicht regen zu können. Sie versuchte, sich auf diesen Mann zu konzentrieren, sagte sich im Stillen seinen Namen ... Bruce, Bruce, Bruce ... und stieß einen krampfhaften Laut aus. Bevor sie fiel, fing er sie auf. Seine Arme legten sich um ihren Körper. Sie hörte seinen langsamen, tiefen Herzschlag. Und als wäre ein Schalter umgelegt, schossen ihr die Tränen in die Augen und sie fing an