»Wie ist Ihr Name?«, fragte eine zierliche junge Frau in Jeans und T- Shirt, die um den Hals eine in Plastik verschweißte Karte trug und einen Klemmblock in der Hand. Sie lächelte überaus gewinnend.
»Newman. Ivy Newman.«
»Doktor Ivy Newman?«, las die Frau von ihrer Liste ab.
Ivy nickte und hoffte, man hielt sie jetzt nicht für jemanden, der zum Rotekreuzteam gehörte und sich um in Ohnmacht gefallene Fans zu kümmern hatte ... Es war schließlich ihr freier Abend ...
»Wir haben Anweisung, Sie in Mr Armstrongs Garderobe zu begleiten.«
Ihr wurde heiß. Sie spürte, wie sich unter ihren Achseln Schweiß bildete. Er würde sie verführen. Sich auf sie stürzen und missbrauchen. Jetzt konnte sie noch weg ...
Ivy zwang sich, ruhig zu bleiben und folgte dem Bodyguard durch eine schier endlose Flucht von Korridoren. Menschen eilten hin und her. Kabel wurden geschleppt, Instrumente herumgetragen. Als sie vor einer Tür stehen blieben, an der ein auswechselbares Schildchen mit der Aufschrift »Bones« prangte, setzte bereits weit entfernt Musik ein.
Sie würde den Anfang verpassen. Oder sollte sie nur hier auf ihn warten, bis er nach dem Konzert zurück in seine Garderobe kam? Alles schien ihr möglich und kein Gedanke zu abwegig.
Und dann sah sie ihn. Groß und imposant stand er mitten in der Garderobe, rauchte und studierte einen Zettel, den er in Händen hielt.
Als sie eintrat, sah er sie direkt an. Er trug eine schwarze Jeans und eine schwarze Motorradjacke.
»Dr. Newman ...«, sagte er mit einem Lächeln.
Hörte sie eine feine Ironie in seiner Stimme?
»Guten Abend.«
Die Stille, die eintrat, war für Ivy schwer zu ertragen. Sie fühlte sich unendlich fehl am Platz.
Er legte den Zettel beiseite. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie habe herbringen lassen?«
Sein Haar war offensichtlich frisch gewaschen und hatte so noch mehr Fülle und Glanz. Sie fragte sich, wie oft er schon Angebote bekommen hatte, für Haarpflegeprodukte zu werben ...
»Nein. Keineswegs. Ich hatte nur befürchtet, ich würde ihren Auftritt verpassen.«
Er überlegte einen Moment und sagte dann: »Ach das ... Nein, das ist nur die Vorgruppe. Immortal Irgendwas ...«
»Immortal Irgendwas? Merkwürdiger Name.«
Es war nicht als Scherz gemeint gewesen, doch als Armstrong zu lachen begann, wollte sie ihn nicht korrigieren. Amüsiert bemerkte sie ein paar sehr spitzer Eckzähne, die über die anderen Zähne hinausragten. Allerdings waren sie echt ...
»Warum ich Sie habe herbringen lassen ... ich hoffe, Sie sind mir nicht böse ... Aber ich wollte wissen, ob ich den Verband abnehmen kann. Nur während des Auftritts ...«
Sie war überrascht von der höflichen Art und Weise in der er mit ihr sprach. »Wir nehmen ihn ab und ich schaue es mir an«, schlug sie vor, woraufhin er sich sofort auszog.
Im gleichen Moment, da er mit entblößtem Oberkörper vor ihr stand, flog die Tür auf und ein junger Mann kam herein. Er erstarrte für einen Moment und stieß dann hervor: »Oh, ich ... wollte nicht stören. Sorry. Wollte nur sagen, dass es in zwanzig Minuten losgeht. Ich hoffe, das reicht ...« Damit verschwand er schleunigst wieder.
Ivy kicherte. »Ich will lieber nicht wissen, was der jetzt gedacht hatte«, sagte sie strahlend.
»Ach – die kennen das«, erwiderte Bones. Als er Ivys Gesicht sah, biss er sich förmlich auf die Lippen, denn sie fühlte sich, als sei sie mit hundert Sachen gegen eine Mauer gefahren. Nein, sie hatte wirklich nicht wissen wollen, wie oft er es vor einem Auftritt in seiner Garderobe mit irgendwelchen Groupies getrieben hatte.
Sie atmete kurz durch und begann, den Verband abzuwickeln. Ohne jede Rücksichtnahme riss sie die Kompresse ab, woraufhin Bones aufstöhnte.
»Au. Verdammt. Das hat wehgetan. War das die Rache für meinen Spruch eben?«
»Nennen Sie es, wie sie wollen«, brummte Ivy. Sie war wütend. Auf ihn und auf sich selbst. Die Naht sah gut aus. Der Eiter war verschwunden und die gerötete Haut zeigte, dass der Heilungsprozess gute Fortschritte machte.
»Ich wollte damit sagen, dass die es kennen, dass ich halbnackt in der Garderobe stehe ...«, sagte er beschwichtigend.
Sie aber presste die Lippen zusammen und sagte nichts dazu. »Wenn Sie versprechen, aufzupassen und keine wilden Bewegungen zu machen, dann lassen Sie ihn weg. Nach dem Konzert muss er aber sogleich erneuert werden.«
»Aye Aye, Captain!«, sagte Bones und salutierte.
»Idiot«, zischte Ivy. Sie wandte sich zur Tür.
»Wollen Sie mir nicht viel Glück wünschen?«, fragte er.
Überrascht drehte sie sich zu ihm um, denn seine Stimme hatte einen merkwürdigen Tonfall gehabt, der sie irritierte.
»Viel Glück!«, sagte sie und ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen.
Der Bodyguard hatte vor der Tür gewartet und führte sie jetzt in einen VIP- Bereich, von dem aus man einen exzellenten Blick auf die Bühne hatte. Die Band Immortal Irgendwas hatte sie verpasst. Kaltes Licht erfüllte die Halle und auf der Bühne gingen die Umbauten vor sich. Riesige Plakate wurden aufgestellt, Strahler und Monitore aufgebaut. Eifrige Roadies eilten hin und her, packten Gitarren auf Ständer und probierten die Tontechnik. Dann war die Bühne mit einem Schlag leer. Niemand kam mehr gelaufen.
Kapitel 13
Ivy erschrak, als das Licht ausging und sie sich in tiefster Dunkelheit wiederfand. Wahrhaftig, ihr letztes Konzert war schon sehr lange her. Zischen und Husten im Publikum, letzte Räusperer. Dann hörte sie eine Stimme, tief, beinahe magisch.
»The boundaries which divide life from death are at the best shadowy and vague. Who shall say where the one ends and where the other begins?«
Und kaum, dass das letzte Worte verklungen war, setzte ohrenbetäubendes Gitarrenspiel ein. Ein Lichtkegel erstrahlte und tauchte Bones in grünen Schein. Er stand da, über sein Mikrofon gebeugt, nur in Jeans und Motorradjacke, hielt seine Gitarre und sang. Seine Stimme klang flacher, als wenn er sprach, beinahe gepresst. Zwischendurch ließ sein tiefer Bariton die Halle förmlich erbeben. Er schien alle Stufen der Artikulation zu beherrschen, von sanftem, melodischem Gesang bis zu wildem Schreien.
Aber was Ivy am meisten beeindruckte, waren die Texte. Sie verstand, warum all diese jungen Leute an seinen Lippen hingen. Nicht nur wegen seines Aussehens, sondern wegen der tiefen Verzweiflung, der er Ausdruck zu verleihen vermochte. Der Verlorenheit. Dem Zorn.
Er sang von der Liebe und meinte den Tod. Alle verstanden ihn und fühlten sich von ihm verstanden. Die Art wie er den Kopf leicht schräg legte, während er sang, gerade so, als höre er jemandem zu, wie sein Haar ihn umwallte ... Dann trat er einen Schritt vom Mikrofon zurück und klappte mit seinem Oberkörper wie ein Taschenmesser nach vorn. Im gehetzten Rhythmus des Schlagzeugs und der Gitarren warf er seinen Kopf auf und ab. Es war ein beeindruckendes Schauspiel!
Ivy sah nicht auf die Uhr und so wusste sie auch nicht, wie lange das Konzert gedauert hatte, sie wusste nur, dass sie den brennenden Wunsch verspürte, es solle niemals enden. Die Musik hatte sie wie in eine Art Trance versetzt, nach der es keine Wirklichkeit mehr geben durfte. Bestürzt beobachtete sie die Menschenmenge, die den Ausgängen entgegenstrebte. Wie konnten sie alle nur so unberührt sein, wo sie noch vor wenigen Minuten in der gleichen Trance gewesen waren? Es war, als sei mit dem Licht aller Zauber von ihnen genommen worden