„Ich denke, das reicht“, unterbrach Mr. Pettus. Er erhob sich und schritt zur Tür. „Es gefällt mir nicht, dass Sie meiner Tochter unterstellen, dass sie Ihnen etwas verheimlicht. Und man sieht ihr doch an, dass sie mit den Nerven am Ende ist.“
„Mr. Pettus“, begann DeMarco, „wenn Anne―“
„Wir waren mehr als entgegenkommend, sie von den Behörden befragen zu lassen, aber jetzt reicht es. Bitte gehen Sie … jetzt.“
Während sie sich erhoben, tauschten Kate und DeMarco einen entmutigten Blick aus. Kate hatte ungefähr drei Schritte getan, als Annes Stimme sie innehalten ließ.
„Nein … warten Sie.“
Alle vier Erwachsenen im Raum wandten sich zu Anne um. Tränen rannen über ihre Wangen und ein ernsthafter Ausdruck lag in ihren Augen. Sie blickte kurz ihre Eltern an und wandte dann die Augen ab, als schäme sie sich.
„Was ist?“, fragte Mrs. Pettus ihre Tochter.
„Mercy hat einen Freund. Mehr oder weniger. Aber es ist nicht Charlie. Es ist dieser andere Typ … und sie hat nie jemandem von ihm erzählt, denn wenn ihre Eltern davon erfahren, drehen sie durch.“
„Wer ist es?“, fragte Kate.
„Es ist dieser Typ, der draußen Richtung Deerfield wohnt. Er ist älter … siebzehn.“
„Und sie waren ein Paar?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube nicht, dass es etwas Festes war. Sie haben sich einfach öfter gesehen. Aber wenn sie zusammen waren, glaube ich, dann … na ja, ich glaube, es ging nur um das Körperliche. Mercy gefiel es, dass dieser ältere Kerl ihr Aufmerksamkeit schenkte, verstehen Sie?“
„Und warum würden ihre Eltern das nicht gutheißen?“, fragte Kate.
„Na ja, zuerst einmal wegen des Altersunterschieds. Mercy ist fünfzehn und er ist fast achtzehn. Aber er ist ein schlimmer Finger. Er hat die High-School geschmissen und hängt mit üblen Leuten rum.“
„Wissen Sie, ob die beiden Sex gehabt haben?“, fragte Kate.
„Das hat sie mir nie erzählt. Aber ich glaube schon, denn immer, wenn ich darüber Witze gemacht und sie aufgezogen habe, ist sie ganz still geworden.“
„Anne“, sagte Mr. Pettus, „warum hast du das der Polizei nicht erzählt?“
„Weil ich nicht will, dass die Leute schlecht von Mercy denken. Sie … sie ist meine beste Freundin. Sie ist lieb und nett und … dieser Typ ist Abschaum. Ich verstehe nicht, was sie in ihm gesehen hat.“
„Wie heißt er?“, fragte Kate.
„Jeremy Branch.“
„Du sagtest, er habe die Schule abgebrochen. Weißt du, wo er arbeitet?“
„Ich glaube, er arbeitet gar nicht. Hin und wieder arbeitet er wohl in der Landschaftspflege, Bäume beschneiden und den Holzfällern zu Hand gehen. Aber Mercy sagte, dass er eigentlich nur bei seinem älteren Bruder herumsitzt und die meiste Zeit trinkt. Und ich glaube, dass er Drogen verkauft, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit.“
Anne tat Kate fast leid. Nach dem Gesichtsausdruck der Eltern zu urteilen, war es klar, dass Anne eine ernsthafte Standpauke erwartete, sobald Kate und DeMarco gegangen waren. Mit diesem Gedanken im Kopf ging Kate zu Anne herüber und setzte sich dorthin, wo ihr Vater vor einer Minute noch gesessen hatte.
„Ich weiß, das ist dir nicht leicht gefallen“, sagte Kate zu ihr. „Aber du hast das Richtige getan. Du hast uns einen Hinweis gegeben und anhand dessen können wir vielleicht der Sache auf den Grund gehen. Danke, Anne.“
Und damit nickte sie Annes Eltern kurz zu und verließ das Haus. Auf dem Weg zum Wagen zog DeMarco ihr Telefon hervor. „Weißt du, wo Deerfield liegt?“, fragte sie.
„Etwa zwanzig Minuten entfernt, noch tiefer in die Wälder hinein“, sagte Kate. „Und wenn du glaubst, dass Deton klein ist, dann hast du noch nichts gesehen.“
„Ich rufe Sheriff Barnes an und sehe zu, eine Adresse zu bekommen.“
Und genau das tat sie, sobald sie wieder im Wagen saßen. Plötzlich spürte Kate eine Welle der Energie über sich hinweg spülen. Sie hatten eine Spur, das örtliche Police Department auf ihrer Seite und den größten Teil des Tages noch vor sich. Als sie die Auffahrt der Familie Pettus‘ hinter sich ließen, konnte sie nicht umhin, sich hoffnungsvoll zu fühlen.
KAPITEL VIER
Obwohl Barnes genauste Angaben zu der Adresse gemacht hatte, fragte sich Kate, ob er sich vertan hatte oder ob etwas bei der Kommunikation verloren gegangen war. Fünf Minuten, nachdem sie den Ortskern von Deerfield, hinter sich gelassen hatte, erblickte sie endlich die Adresse in schwarzen Buchstaben geschrieben an einem Briefkasten an der Straße. Dahinter lagen, wie generell in Deerfield, Virginia, nichts als offene Felder und Wald.
Knapp einen halben Meter vom Briefkasten entfernt konnte sie die Umrisse dessen erkennen, was sie für eine Auffahrt hielt. Das Unkraut verdeckte fast die Zufahrt. Sie fuhr auf die Auffahrt und fand sich auf einem Schotterweg wieder, der weiter vorn in einer Lichtung mündete. Sie nahm an, dass dies der Garten war, in dem aber schon sehr lange nicht mehr gemäht worden war. Dort parkten drei Wagen, von denen man zwei komplett abschreiben konnte. Sie standen am Ende der Auffahrt.
Einige Meter von den Wagen entfernt, entlang der Baumlinie des Waldes dahinter, der sehr groß wirkte, stand ein überbreiter Wohnwagen. Äußerlich war er dekoriert wie ein Haus und hätte ein nettes Plätzchen sein können, wenn er in Schuss gehalten worden wäre. Aber die vordere Veranda hing leicht schräg, ein Teil des Geländers war ganz abgefallen. Eine lose Regenrinne hing rechts am Haus und dahinter erstreckte sich der wüst aussehende Garten.
Kate und DeMarco parkten hinter den Schrottautos und gingen langsam auf das Haus zu. Das Gras, das zum Großteil aus Unkraut bestand, reichte Kate bis zu den Knien.
„Ich fühlte mich wie auf irgendeiner merkwürdigen Safari“, sagte DeMarco. „Hast du eine Machete?“
Ihre Augen auf die Tür gerichtet, kicherte Kate nur. Aufgrund von Anne Pettus‘ Aussage und genereller Stereotypen meinte sie schon zu wissen, was sie drinnen vorfinden würden: Jeremy Branch und seinen älteren Bruder, die herumsaßen und nichts taten. Das Haus würde wahrscheinlich muffig und moderig riechen, vielleicht sogar nach Marihuana. Um das billige Mobiliar herum, das auf einen recht guten Fernseher ausgerichtet war, würden Bierflaschen liegen. Sie hatte es schon unzählige Male gesehen, vor allem bei jungen Leuten, die in ländlichen Gegenden wohnten und Sozialgelder kassierten.
Sie stiegen auf die Veranda und klopften an die Tür. Von drinnen drang Musik, Heavy Metal, allerdings relativ leise gestellt. Dann vernahm sie schwere Schritte, die sich der Tür näherten. Als sie wenige Sekunden darauf geöffnet wurde standen sie einem jungen Mann in ärmellosem T-Shirt und Khaki-Short gegenüber. Er war unrasiert, sein war linker Arm komplett tätowiert und beide Ohren waren gepierct.
Erst lächelte er bei dem Anblick zweier Frauen auf seiner Veranda, doch dann sank die Realität ein. Es waren nicht nur zwei Frauen, sondern zwei professionell gekleidete Frauen mit ernstem Gesichtsausdruck.
„Wer sind Sie?“, fragte er.
DeMarco zeigte ihm ihre FBI-Marke und trat dabei einen Schritt auf die Tür zu. „Agents DeMarco