„Könnten Sie uns bitte zu einer kurzen Nachbesprechung auf die Wache geleiten“, bat Kate. „Aber nur mit Ihnen selbst und Office Foster. Ich möchte es beim engten Kreis belassen.“
Barnes nickte grimmig, stand auf und schnippte seine Zigarettenkippe in den Garten. „Sie wollen über Mercy als Verdächtige sprechen, ohne dass es allzu viele Leute mitbekommen. Ist das richtig?“
„Ich glaube, es wäre unklug, diese Möglichkeit von der Hand zu weisen, ohne sie eingehend überprüft zu haben“, sagte Kate. „Und Sie haben recht. Je weniger Leute davon Wind bekommen, desto besser.“
„Ich rufe Foster auf der Fahrt zur Wache an.“
Er ging die Stufen hinab und starrte dabei die Reporterin und ihren Kameramann böse an. Das veranlasste Kate, sich zu fragen, ob er innerhalb der letzten zwei Tage mit den Nachrichten-Crews aneinander geraten war.
Als sie und DeMarco in den Wagen stiegen, warf sie der Nachrichten-Crew einen misstrauischen Blick zu. Sie wusste, dass ein Mord wie dieser kleine Gemeinden wie Deton schwer erschütterten. Und dass Nachrichten-Crews genau deshalb nicht davor Halt machten, ihre Story zu bekommen.
Kate fragte sich, ob es hier um mehr ging, als auf den ersten Blick ersichtlich war ‒ und, wenn dem so war, was genau sie zu tun hatte, um an alle Fakten zu kommen.
KAPITEL DREI
Die Deton Police Station entpuppte sich als das, was Kate sich ungefähr vorgestellt hatte. Sie lag an einem Ende des Ortskerns entlang des Highways, ein schmuckloses Gebäude aus Ziegelstein, auf dessen Giebel die amerikanische Flagge wehte. Ein paar Polizeiwagen parkten seitlich davon. Die niedrigen Kennzahlen reflektierten die Größe des Ortes selbst.
Das Großraumbüro nahm den meisten Platz ein. Ein großer Schreibtisch stand vorne, verwaist. Tatsächlich machte die ganze Wache einen verwaisten Eindruck. Sie folgten Barnes einen schmalen Flur entlang, an dem nur fünf Räume lagen, zur Rückseite des Gebäudes. An der Tür einer dieser Räume war ein Schild angebracht, auf dem Sheriff Barnes stand. Barnes führte sie in den letzten Raum auf dem Flur. Er war sehr klein und als eine Art Konferenzraum ausgestattet. Darin hielt sich ein Beamter auf, der an einem Tisch saß und einen Stapel Dokumente durchging.
„Agents, dies ist Officer Foster“, sagte Barnes.
Officer Barnes war ein junger Mann, der auf die Dreißig zugehen mochte. Sein Haar trug er kurzgeschoren und er schaute etwas mürrisch drein. Kate sah sofort, dass er ein sehr sachlicher Mann war. Er würde keine Witze machen, um die Spannung zu zerstreuen und sich wohl nicht die Mühe machen, die Agents, die jetzt vor ihm saßen, durch Small-Talk besser kennenzulernen.
Kate mochte ihn auf Anhieb.
„Seit wir den Anruf von Pastor Poulson erhalten haben, sind bei Officer Foster alle Fäden zusammengelaufen“, erklärte Barnes. „Er hat jede Information, die wir erhalten haben, gehört oder gesehen und sie den Akten zugefügt. Welche Fragen Sie auch immer haben sollten, er kann sie Ihnen wahrscheinlich beantworten.“
„Das ist doch mal ein hohes Lob“, sagte Foster, „aber ja, ich werde definitiv mein Möglichstes tun.“
„Also“, begann Kate, „was für Informationen haben wir hinsichtlich der Personen, mit denen alle drei Fullers direkt vor den Morden gesprochen haben ‒ abgesehen von Gesprächen untereinander.“
„Alvin Fuller hat mit einem alten Freund aus High-School-Zeiten gesprochen, als er an der Citgo am Highway 44 bezahlte“, sagte Foster. „Er war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause und als dort anhielt, um ein Sixpack Bier zu kaufen, sind sie sich über den Weg gelaufen. Der Freund sagt, sie haben sich über Arbeit und Familie unterhalten. Es war sehr oberflächliches, ein Gespräch der Höflichkeit halber. Der Freund sagte, dass Alvin nicht irgendwie seltsam gewirkt habe.“
„Bezüglich Wendy Fuller, die letzte Person, mit der sie, abgesehen von ihrer Familie, gesprochen hat, war eine Kollegin. Wendy arbeitete in einem kleinen Versandlager ein wenig außerhalb. Die Kollegin gab an, das letzte, worüber sie gesprochen hatten, war Wendys Sorge, weil Mercy begann, starkes Interesse an Jungs zu zeigen. Anscheinend hatte Mercy sich vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal geküsst, und Wendy machte sich Sorgen, was das bedeuten könnte. Aber abgesehen davon war alles so, wie sonst auch.“
„Und wie sieht es mit Mercy aus?“, fragte DeMarco.
„Die letzte Person, mit der sie gesprochen hat, war ihre beste Freundin, ein Mädchen aus dem Ort namens Anne Pettus. Wir haben zweimal mit Anne gesprochen, nur um sicherzugehen, dass sie beide Male die gleiche Geschichte erzählt. Sie sagt, in der letzten Unterhaltung ging es um einen Jungen namens Charlie. Nach dem, was Anne sagt, war dieser Charlie nicht Mercys Freund. Anne hat uns auch etwas verraten, was nicht mit dem übereinstimmt, was ihre Eltern über sie wissen.“
„Eine Lüge?“, fragte Kate.
„Ja. Wendys Kollegin sagte, dass sie über Mercys ersten Kuss gesprochen haben. Aber Anne Pettus sagt, dass das so nicht richtig ist. Wie es scheint, liegt Mercys erster Kuss schon eine ganze Weile zurück.“
„Hat sie promiskuitiv?“
„Das hat Anne so nicht gesagt. Sie sagte nur, dass sie genau wisse, dass Mercy schon sehr viel mehr mit Jungen gemacht hat als sie nur zu küssen.“
„Hinsichtlich ihres Verschwindens, in welche Richtung weist die bisherige Beweislage?“, fragte Kate. „Dass sie entführt wurde, oder dass sie abgehauen ist?“
„Sofern Sie nicht noch etwas in dem Haus finden, gibt es bisher keinerlei Beweise, die auf eine Entführung hinweisen. Im Gegenteil, wir haben Beweise, die uns zu der Annahme verleiten, dass sie freiwillig gegangen ist.“
„Welche Art von Beweisen?“
„Anne sagt, dass Mercy sich eine kleine Summe Bargeld zusammengespart hat. Sie wusste sogar, wo Mercy das Geld aufbewahrte: ganz unten in ihrer Sockenschublade. Wir haben nachgesehen: 300 Dollar lagen dort versteckt. Das widerspricht wiederum der Hypothese, dass sie davongelaufen ist, denn sie hätte das Geld mitgenommen, richtig? Allerdings hat Mercy ihre Kreditkarte zuletzt benutzt, um damit den Tank aufzufüllen. Das war zwei bis drei Stunden, bevor die Leichen ihrer Eltern entdeckt wurden. Zwei Tage zuvor hat sie bei Target in Harrisonburg Kosmetika in der Größe gekauft, wie man sie gern mit auf Reisen nimmt: Zahnbürste, Zahnpasta, Deodorant. Die Kreditkartenaufstellung bestätigt das, ebenso Anne Pettus, mit der zusammen sie an dem Tag eingekauft hat.“
„Hat Anne sie zufällig gefragt, warum sie Kosmetika in Reisegröße kauft?“, fragte Kate.
„Ja, das hat sie. Mercy sagte, sie hätte nicht mehr viel zuhause und hasste es, sich wie ein Kind zu fühlen, dass ihre Eltern bitten musste, ihr so etwas zu kaufen.“
„Es ist nichts über einen Freund bekannt?“, fragte Kate.
„Nicht nach dem, was Anne berichtet. Und die schien so ziemlich alles über Mercy zu wissen.“
„Ich möchte mit Anne sprechen“, sagte Kate. „Meinen Sie, sie willigt ein, oder wird sie uns Steine in den Weg legen?“
„Sie wird ganz sicher einwilligen“, sagte Foster.
„Er hat recht“, fügte Barnes hinzu. „Anne hat uns sogar zwischendurch mehrfach angerufen, und fragte, ob wir neue Erkenntnisse haben. Sie ist sehr hilfsbereit. Das gilt auch für ihre Eltern, die uns mit ihr haben sprechen lassen. Wenn Sie möchten, rufe ich an und arrangiere ein Treffen.“
„Das wäre großartig“, sagte Kate.
„Sie ist ein starkes Mädchen“, sagte Foster. „Aber unter