Es war noch nicht einmal halb acht, so früh dürfte er auf keinen Fall dort erscheinen, die Leute dort schliefen noch, jedenfalls würden sie ihn wohl kaum in ihre Räume schauen lassen. So trank er im Bahnhofsrestaurant erst einmal einen Kaffee und schaute seine Skizze an.
„Voßstraße 1“, fragte er den Kellner, „ist das weit von hier?“
Der Kellner schüttelte den Kopf und stammelte etwas, was nicht recht zu verstehen war, offenbar ein Pole, aber da hörte er schon vom Nebentisch: „Da fahren Sie mit der U-Bahn bis zur Station Kaiserhof, da sind es dann nur noch ein paar Schritte.“
Aber er wollte zu Fuß gehen, es war ja noch so viel Zeit. Die Luft war frisch, der Tag begann klar, und trotz der frühen Stunde wehte schon ein böiger Wind. Er fröstelte ein wenig und schritt kräftig aus, es tat wohl, den Kopf nach der langen Bahnfahrt und dem vielen Rauch in den Abteilen auszulüften. Noch nie war er in einer so großen Stadt gewesen, doch schien er nicht im geringsten beeindruckt oder gar eingeschüchtert, im Gegenteil, er war gespannt auf seine Aufgabe, genoss seinen Marsch durch die erwachende Großstadt und spürte mit einem Mal, wie ihn ein Gefühl glücklicher Freiheit durchströmte. Das waren die Aufträge, wie er sie schätzte! Aufgaben, bei denen man auf sich allein gestellt ist; die man allein durchführen muss; bei denen man allein die Verantwortung trägt und alle Entscheidungen allein zu treffen hat; bei denen man aber dennoch weiß, dass man nicht ein verlorener Einzelgänger ist, sondern sich getragen fühlen kann von einer großen Zahl von entschlossenen Männer, die hinter einem stehen, die auf einen vertrauen und gespannt dem Erfolg der Mission entgegenblicken.
Da und dort fragte er kurz nach dem Weg, nicht weil er sich verlaufen hätte, sondern eher um sich zu vergewissern. Die Berliner waren freundlich und kannten sich aus. Möglicherweise sind sie doch etwas heller, dachte er, oder einfach wacher?
„Nach der Voßstraße 1 möchteste? Was willste denn dort, Kleener? Das ist das Borsig-Palais!“
Herkommer murmelte etwas von Heizung nachsehen.
„Geradeaus weiter, das ist dann direkt an der Ecke Wilhelmstraße-Voßstraße.“ –
Oh, die Voßstraße 1, das war ein statiöses Gebäude! Diese hohen Fenster und die Nischen in der Fassade des Obergeschosses mit diesen übermannshohen Statuen darin! So sieht kein Wohnhaus aus, das erkannte er gleich; auch kein gewöhnliches Bürogebäude, eher die Zentrale eines großen Unternehmens. Im Näherkommen sah er dann am Eingang ein großes in Bronze gegossenes Schild:
KANZLEI
DES STELLVERTRETENDEN
REICHSKANZLERS
Das hätten die mir ja gleich sagen können! Aber das wussten sie wohl selbst nicht. Etwas verdutzt ging er am Eingang vorbei und noch ein Stück weiter, um seinen Plan erst noch einmal zu überdenken, doch dann machte er entschlossen kehrt und ging mit flottem Schritt und ohne Zögern in das Gebäude hinein. Gleich rechter Hand gab es eine verglaste Portierloge, in der sich mehrere uniformierte Männer vom Wachpersonal aufhielten, bei denen er sich aber nicht darüber im Klaren war, ob es Wachleute oder Polizisten oder vielleicht auch nur Chauffeure waren.
„Morgen! Ich komme von der Firma Klaus Segebert Heizung, Gas und Wasser wegen der Erneuerung der Dampfheizung.“
„Ach ja“, antwortete der Pförtner, „ich hörte schon davon, da soll sich wohl was tun.“
„Ich müsste in alle Räume einmal kurz reinschauen, wenn das möglich wäre, bitte“, sagte Herkommer und tippte auf sein Wachstuchheft.
„Du“, wandte sich der Pförtner an einen seiner Kollegen, der im Hintergrund der Portierloge herumsaß, „geh doch mal mit dem jungen Mann durchs Haus und zeige ihm die Räume.“
„Was meinste, wie lange das dauert! Mehr als 40 Räume!“
„Klar, alle! – Nu mach’ schon!“
Das hätte ja nicht besser klappen können, dachte Herkommer und eilte dem Wachmann hinterher. An der Art und Weise, wie dieser an den einzelnen Türen anklopfte, konnte Herkommer erkennen, welcher Respekt dem gerade Besuchten entgegenzubringen war. Bei Räumen, bei denen der Wachmann sicher war, dass sich im Augenblick niemand darin aufhält, schlug er, um der Form Genüge getan zu haben, nur einmal kräftig mit den Knöcheln der geschlossenen Faust gegen die Tür und stieß diese, ohne eine Antwort abzuwarten, fast im gleichen Augenblick auf. Das Gleiche galt für alle Räume im Souterrain, in denen er technisches Hilfspersonal seines Ranges wusste – vielleicht, dass er in besonderen Fällen statt mit nur einem mit zwei kurzen Schlägen anklopfte und möglicherweise auch noch eine knappe Sekunde bis zum Öffnen dazwischenschob. Bei den höherrangigen Sachbearbeitern klopfte er nur mit dem Knöchel des gekrümmten Zeigefingers an, und zwar drei- oder viermal und vor allem wesentlich leiser und wartete dann etliche Sekunden, bevor er ein zweites Mal, diesmal aber schon deutlich stärker, anklopfte. Bei den Hochrangigen im Obergeschoss schließlich, obwohl sich bei diesen die Prozedur meistens nur an der Tür ihres Vorzimmers abspielte, wartete er nach dem ersten Anklopfen erheblich länger und zwar mit etwas vorgebeugtem Oberkörper und dem Ohr nah an der Tür, und falls ein zweites Anklopfen notwendig wurde, so erfolgte dieses hier nun keineswegs lauter als das erste. Wenn auch nach dem dritten Anklopfen kein ‚Herein!‘ zu vernehmen war, drückte er mit der einen Hand die Türklinke langsam nach unten, während er mit der anderen Hand nach hinten, auf Herkommer zu, eine abwehrende oder mindestens aufhaltende Gebärde machte, so als ob er befürchte, dass Herkommer versuchen könnte, an ihm vorbei in den Raum zu stürmen. War die Klinke dann ganz herabgedrückt, so öffnete er ebenso langsam die Tür, aber nur so weit, dass er gerade seinen Kopf hindurchstrecken konnte, wobei er vorsorglich schon vorher ein beschwichtigendes Lächeln aufsetzte.
Bei den allerhöchsten Würdenträgern des Hauses kam dann als letzte Steigerung noch hinzu, dass er im Augenblick des ‚Herein!‘ sich aus seiner lauschenden Haltung deutlich aufrichtete, um noch rasch seinen Rock zu straffen, indem er ihn mit beiden Händen in einem kurzen Ruck nach unten zog, was aber nicht zur geringsten Verzögerung des Eintretens führte.
Auch innerhalb des Raumes gab es im Verhalten des Wachmanns noch beträchtliche Unterschiede. Bei Respektspersonen blieb er gleich neben der Tür stehen, den Rücken fast an der Wand, bei weniger Hochrangigen trat er von vornherein ein ganzes Stück weiter in den Raum, und bei den Hilfskräften seiner Art, wie sie vorwiegend im Souterrain anzutreffen waren, ging er neugierig im Raum umher und schwätzte mit ihnen oder hielt sich beim Messen an Herkommers Seite.
Das Sprüchlein, das er nach dem Eintreten aufsagte, war stets das gleiche: „Da ist jemand von der Heizungsfirma wegen der neuen Anlage. Dürfte der gerade mal kurz in den Raum schauen?“
Meistens wurden sie erfreut begrüßt (‚Von der Heizungsfirma? Na, da wird’s ja Zeit!‘). Herkommer huschte dann mit seinem Zollstock gebückt am Boden entlang und maß Länge und Breite, wobei er auch größere Vorsprünge und Nischen berücksichtigte.
Der Bürovorsteher, der zusammen mit zwei Sekretärinnen im riesigen Vorzimmer des Vizekanzlers saß, eine sportliche Gestalt mit lockerem Auftreten, meinte: „Ahaa – das ist eine gute Nachricht! Das Reich hat die Bude ja erst kürzlich gekauft, hätte nicht gedacht, dass sich da so schnell etwas ereignen würde! Herr von Papen saß im Winter an manchen Tagen im Mantel am Schreibtisch! Sie werden gleich sehen, er hat ja auch mit Abstand den größten Raum. Schade, dass er heute nicht da ist – er wird sich freuen!“ Und leiser fügte er noch hinzu: „Unser Vize hat halt doch Einfluss!“
Irrigerweise sah er offenbar in dieser Fürsorge des Reiches auch ein gutes Zeichen für den Fortbestand der Kanzlei des Herrn von Papen.
Ein freundlicher Jurist machte sich bei Herkommers doch eher flüchtiger Vermessung sogar Gedanken: „Ist denn das genau genug, was Sie da machen? Lassen Sie sich ruhig Zeit, Sie stören hier nicht.“
„Es geht im Moment nur um die Circa-Kubikmeter“, beschwichtigte Herkommer, „wegen der richtigen Kesselgröße und der Anzahl und Größe der Radiatoren in den einzelnen Räumen.“ Und vom eigenen Erfolg seiner Schwindelei