„Was ist denn da los?“, stutzte Sabine schon nach dem ersten Strich, das war wie ein Streichen und ein Zupfen in einem!“
Viktor gestand seine Übeltat sofort, war aber vom akustischen Ergebnis nicht weiter überrascht, obwohl es für ihn stets ein großer Unterschied war, ob er sich einen Ton oder Klang nur vorstellte oder ihn, fast gegenständlich und wie zum Anfassen deutlich, mit allen seinen Feinheiten hörte. Viktor, der sich immer freute, wenn sich eine Gelegenheit bot, jemandem einen komplizierten Sachverhalt zu erklären, erläuterte Sabine in allen Einzelheiten, was mit der Saite, erst einmal ohne einen Knoten, geschieht, wenn sie mit dem Bogen angestrichen und zum Schwingen gebracht wird. Am Anfang unterbrach sie ihn mehrmals: „Weiß ich doch, weiß ich doch!“, aber dann wurde sie doch aufmerksamer.
„Für einen allerersten kurzen Augenblick haftet die Saite am Bogen“, sagte er, „sie klebt gewissermaßen an ihm, und wird von ihm ein winziges Stückchen mitgenommen. Dabei nimmt ihre Spannung zu, entsprechend lässt sie sich zunehmend schwerer zur Seite auslenken und von einer bestimmten Spannung an reißt sie sich los und schwingt zurück, über ihre Ruhelage hinaus. Am Ende der Strecke kehrt sie um, schwingt also wieder in derselben Richtung, in der sich der Bogen bewegt, und sobald sie annähernd seine Geschwindigkeit erreicht hat, haftet sie wieder an ihm, sie klinkt sich also gewissermaßen wieder ein und wird wieder ein Stückchen mitgenommen, bis sie sich erneut losreißt. Das ist im Prinzip ein dauerndes ein Hin- und Herwechseln zwischen Haftreibung und Gleitreibung. – So sieht man auch, was es bedeutet, wenn der Bogen nur ganz schmal mit der Kante aufliegt oder mit seiner vollen Breite, oder wenn er langsamer oder schneller bewegt wird, und was ein zu glatter Bogen bedeutet und wie sich dann das aufgebrachte Kolophonium auswirkt.“
„Ja, klar, klar.“
„Wenn sich aber nun ein Knoten in den Haaren des Bogens befindet, dann wird die Saite vom Bogen ein ganzes Stück weiter mitgenommen als vorher, wo die Auslenkung nur durch die Haftung geschah, die Saite wird also plötzlich viel stärker gespannt und der Ton ist dann schlagartig lauter, aber er klingt auch sofort wieder ab auf die Lautstärke des gestrichenen Tons – das ist der obendrauf gesetzte ‚Zupf‘!“
„Pizzicato!“, rief Bienchen.
Die Frequenz bleibe also unverändert, meinte er noch gelehrt, aber die Amplitude würde für einen Augenblick viel größer. Doch Sabine amüsierte sich bereits spielerisch mit diesem seltsamen Phänomen, bei dem sich Streichen und Zupfen miteinander verbinden, und sie lachten beide über die Effekte, die Sabine dabei herausholen konnte. Dann riss Viktor das verknotete Schweifhaar heraus, und Sabine wandte sich wieder ernsthaft ihrem Training zu.
Viktor aber ließen die Knoten von da an nicht mehr in Ruhe. Er erlangte allmählich eine große Kunstfertigkeit, und Sabine probierte gutmütig, aber auch nicht ganz ohne eigenes Vergnügen Viktors neueste Kreationen aus. Er experimentierte mit verschieden stark auftragenden Knoten, wobei ihn die Ergebnisse mit dem gemeinen Achtknoten, wie er in der Seefahrt heißt, am meisten befriedigten. Später machte er Versuche mit mehreren und schließlich vielen Knoten hintereinander, und sie nannten die entsprechenden Bögen dann ‚Sägebogen‘. Da war dann nichts mehr zu hören von einzelnen wohlgesetzten Zupfern, sondern das ergab einen einzigen brutal aufgerissenen Ton.
„– nicht gerade schön“, wie Sabine befand,
„– aber enorm ausdrucksstark“, ergänzte Viktor,
„– wo’s passt“, relativierte Sabine.
Natürlich probierte Viktor auch Knotenabstände aus, die sich veränderten, und verfertigte schließlich sogar ein Schweifhaar, in das gleich mehrere einzelne Haare hineingeflochten waren und das schließlich nur noch aus Knoten, einer an den anderen gereiht, bestand, mit dem sich gar fürchterliche Töne erzeugen ließen.
„Du hast aus meiner Violine ein schnarchendes Krokodil gemacht“, lachte Sabine.
Immerhin verlegte Viktor seine Knotenbahnen ganz an die Außenkante des Bogens, wo sie noch am wenigsten störten, aber bei Bedarf leicht einzusetzen waren.
Sabine und Viktor hatten jedenfalls ihren Spaß mit diesen Experimenten, und Viktor genoss die Wochen der Freiheit zwischen Internat und Studium. Aber wirklich unbeschwert waren sie nicht. Immer wieder einmal kam Viktor die drohende Ungewissheit in den Sinn, die Bienchen und ihren Vater bedrängte, und manchmal hatte Viktor das Gefühl, dass Bienchen im gleichen Augenblick wie er von diesen bleiernen Gedanken an die Zukunft befallen wurde, aber sie sprachen darüber nie miteinander.
Sie konnten nicht ahnen, dass diese Knoten im Schweifhaar, deren erster nur ganz beiläufig im Jux geknüpft worden war und die nur dem Schabernack gedient haben, sich in nicht allzu ferner Zeit als äußerst nützlich erweisen sollten; ja vielleicht waren sie es gewesen, die Sabine das Leben gerettet haben. –
5_Ludwig Herkommers Erkundungsauftrag in Berlin
Herkommer war nun schon seit über einem Jahr als hauptamtlicher Mitarbeiter bei der SA beschäftigt und vorwiegend im Gebäude der Kreisleitung tätig. Die Welt hatte sich in dieser Zeit verändert, und auch bei Herkommer war in vielem ein Wandel eingetreten.
Wie damals schon bei der Oberfränkischen Eisenbahngesellschaft war es Eugen gewesen, dem er diesen Posten zu verdanken hatte. Offiziell hatte Eugen Saller als ein Beamter des mittleren oder bestenfalls gehobenen Dienstes zwar nur begrenzten Einfluss auf Personalfragen, aber er kannte, vor allem bei der Polizei und in der Partei, auf allen Ebenen wichtige Leute, und offenbar hörte man auf ihn. Erst viel später fand Herkommer heraus, dass er eine ganz entscheidende, wenn auch durchaus nicht offizielle Rolle innehatte bei dem immer enger werdenden Zusammenspiel von Polizei und Partei, wie es am deutlichsten zunächst bei der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, sichtbar geworden war. Schon gleich nach dem Umsturz war dieses verhängnisvolle Zusammenrücken zu beobachten gewesen, als bei der ersten Welle der Massenverhaftungen vor allem in Berlin die Polizei überfordert war und SA-Leute als Hilfspolizisten eingesetzt wurden, die sich freilich in keiner Weise ausreichend unter Kontrolle halten ließen und rasch wieder deaktiviert werden mussten. In der Tat gab es diese geheimnisvollen Verbindungsmänner zwischen Polizei und Partei in nahezu allen Großstädten. Auf dieser Schiene also war Ludwig Herkommer nach seinen Erfolgen als Polizeihundeführer bei der Oberfränkischen Eisenbahn gelandet und in der gleichen Weise war er von dort, nachdem er sich bei der Schirndinger Eisenbahnkatastrophe ausgezeichnet hatte, von der Partei als Führungsnachwuchs für die SA weggeholt worden.
Bei der SA allerdings war sein Start dann eher holprig gewesen, mindestens war er glanzlos verlaufen. Zwar war ihm der Ruf eines Wundermannes vorausgeeilt, der auch noch die schwierigsten und verfahrensten Situationen mit Bravour zu meistern vermag – ‚Das sieht man dem Bürschlein überhaupt nicht an‘, soll der Kreisleiter nach der ersten Begegnung geäußert haben –, aber Herkommer hatte in der ersten Zeit selbst gespürt, dass er zu solch selbstständigen Glanzleistungen, wie er sie als Polizeihundeführer oder dann als Eisenbahner vollbracht hatte, in der neuen Umgebung noch nicht wieder fähig gewesen wäre.
Es galt als durchaus ungewöhnlich, dass ein Nicht-Parteimitglied sogleich als ‚Hauptamtlicher‘ von der SA eingestellt wurde, aber an seinem ersten Arbeitstag war von irgendeiner besonderen Stellung nichts zu spüren gewesen. Ein mürrischer SA-Scharführer hatte ihn in Empfang genommen und ihm mitgeteilt, dass von der Partei außer ein paar Hilfskräften von der Kreisleitung im Augenblick niemand und von der SA nur er anwesend sei, und hatte ihm den Auftrag erteilt, fürs Erste einen tischhohen Stapel alter Zeitungen mit dem Messer in Klosettpapier zu verwandeln, wozu er die Doppelseite insgesamt viermal zu halbieren habe, was dann jeweils 16 Blatt in einer ausreichenden Größe ergebe. Herkommer erinnerte sich noch genau, wie enttäuscht er gewesen war. Das war ein allzu großer Gegensatz zum vorangegangenen Einstellungsgespräch – mit welchen Erwartungen war er doch hierhergekommen! Aber, er hatte es ja schon immer verstanden, seine Gefühle ganz im Hintergrund zu halten, und so war es ihm leicht gefallen, seine Enttäuschung zurückzudrängen und sie schließlich, als ihm die stumpfsinnige Arbeit dank konsequenter Schematisierung der einzelnen Handgriffe sogar Spaß zu machen begann, ganz auszuschalten.
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