Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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förderlich für seine Selbstbefreiung aus der allzu engen Einbindung hatte sich auch sein Eintritt in die Partei erwiesen, die er auf energisches Drängen seines Beschützers Eugen gerade noch rechtzeitig beantragt hatte. Denn nach dem Umsturz war die Zahl der Aufnahmeanträge dermaßen angeschwollen, dass die Partei eine jahrelange Aufnahmesperre erließ, die auch für SA-Mitglieder, obwohl diese eigentlich von der Sperre ausgenommen waren, den Eintritt erheblich erschwerte. Er gehörte also, gerade noch, zu den Märzgefallenen, wie sie von den alten Parteigenossen spöttisch genannt wurden, aber der Kreisleiter, der ihn als neuen Parteigenossen in einer Art willkommen geheißen hatte, als ob er ihn vorher noch nie gesehen hätte, sagte ihm, man dürfe da nicht ungerecht sein, denn viele dieser „Märzgefallenen“ seien Beamte oder Staatsangestellte, denen vor der Machtübernahme jede Parteizugehörigkeit verwehrt gewesen sei.

      Es war nicht zu übersehen, dass ihn der Kreisleiter seit seinem Parteieintritt höher schätzte, ihn jedenfalls gegenüber den anderen Hauptamtlichen der Gruppe bevorzugte, was auch bald schon auf die verschiedenen Unterführer der SA abfärbte. Wenn für irgendeine anspruchsvollere Aufgabe ein Einzelner aus der Gruppe gebraucht wurde, dann wurde meistens nach ihm verlangt. Das begann Herkommer zwar hin und wieder lästig zu werden, war ihm aber dennoch willkommen, denn es bestätigte ihm, dass er es geschafft hatte; dass er sich schon genügend befreit hatte von der nivellierenden Gruppe und gewappnet war, wieder wie früher schwierige Aufgaben in eigener Verantwortung und ganz auf sich allein gestellt zu übernehmen, die sich dann alsbald auch einstellten. –

      „Ich habe dich zu mir rufen lassen, Herko, weil ich eine ganz besondere Aufgabe für dich habe“, empfing ihn der Kreisleiter, ein jugendlich wirkender Mann Ende 30, in ungewöhnlich ruhigem Ton, „und ich wüsste im Moment sonst keinen, dem ich sie übertragen könnte.“

      Er liebte es, junge Untergebene, vor allem wenn er sie mochte, mit ‚Du‘ anzureden, wobei er manchmal allerdings in einem einzigen Gespräch mehrmals zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ hin und her sprang. Erfahrene Mitarbeiter wussten schon aus der Anrede den Charakter oder, bei einem plötzlichen Wechsel, den weiteren Fortgang eines Gespräches, das gewöhnlich ziemlich einseitig verlief, richtig einzuschätzen. ‚Du‘, das war die Umarmung, das war das Zur-Brust-nehmen, zugleich aber auch die Vereinnahmung des Gesprächspartners als Gefolgsmann, der keine abweichenden Meinung mehr äußern, ja sie nicht einmal mehr haben durfte. Das Wechseln auf ‚Sie‘ dagegen, das war das Wegschieben auf Armeslänge bei einer Ermahnung oder Warnung, oder es war der Ausdruck einer gewissen Empörung über die Abweichung des Zuhörers von seiner Auffassung; oder es war gar, je nach Tonlage, das brüske Wegstoßen von sich, zum Beispiel bei einem Anpfiff oder wenn er jemandem ausführlicher den Marsch blasen wollte, aber davon konnte hier keine Rede sein.

      „Ich spreche hier nicht in meiner Eigenschaft als Kreisleiter, sondern als SA-Führer – eine Doppelfunktion übrigens, die nicht sehr bekannt ist, aber gar nicht so selten vorkommt. Wir stehen vor einer überaus schwierigen Frage. Mit ‚wir‘ meine ich nicht uns hier von der Partei, nicht uns von der hiesigen Kreisleitung, sondern die SA und zwar nicht die örtliche, sondern die SA überhaupt, also reichsweit gesehen.“

      An dieser Stelle unterbrach er sich und fuhr in einem deutlich verschärften Ton fort: „Alles, was du jetzt hörst, ist GKdos! Absolut GKdos!“

      „Was ist Gee-Kaa-doss?“ fragte Herkommer vorsichtig.

      „Eine Geheime Kommandosache. Unterliegt also strengster Geheimhaltung, nicht nur nach außen, sondern auch hier innerhalb des Hauses. Wenn du mit jemandem darüber reden willst, dann ausschließlich mit mir; ich stehe dir bis zur Abfahrt deines Zuges heute Abend jederzeit zur Verfügung, das weißt du. Deine Aufgabe wird darin bestehen, schleunigst nach Berlin zu fahren und die Baulichkeiten einer bestimmten Adresse, die ich dir mitgeben werde, auszukundschaften.“

      ‚Baulichkeiten‘ hat er gesagt, was er damit wohl meint, fragte sich Herkommer, aber der Kreisleiter fuhr bereits fort:

      „Uns interessiert: die Zahl der Räume dort; die Größe der Räume; wenn möglich die ungefähre Grundfläche jedes Raumes, also zum Beispiel ‚circa 4 auf 7 Meter‘ oder so; ferner vorhandene Verbindungstüren zwischen den Räumen, also etwa: einfache Türen, zweiflüglige Türen, Schiebetüren und so weiter; dann auch die Breite der Treppen, mindestens der Treppe vom Parterre zum ersten Obergeschoss; ebenso die Breite des Eingangsportals – ist es etwa zweiflüglig? – und die Gestaltung der Freitreppe außen, falls vorhanden, und so weiter. Mit diesen Fragen geht es uns darum, ein Bild darüber zu gewinnen, ob das Gebäude für uns groß genug und vor allem genügend repräsentativ ist, verstehst du?

      Ich will dir auch die Hintergründe erklären, Herkommer, dann siehst du, warum die Sache so streng geheim ist. Der Führer hat angeordnet, dass das Hauptquartier des Stabes der SA von München nach Berlin verlegt wird. Das ist sicherlich eine kluge Entscheidung, denn die SA ist inzwischen zu einem Millionenheer angewachsen, dagegen ist die Reichswehr mit ihren hunderttausend Männeken, so gut sie im Vergleich zur SA auch bewaffnet sein mag, nur ein winziges Häuflein. Auch wenn wir die gesamten Polizeikräfte noch dazurechnen, dann ist das immer noch ein verlorener Haufen, der beispielsweise eine auftrumpfende SA nicht in Schach halten könnte. Das ist der Grund, warum immer wieder diese blödsinnigen Gerüchte aufkommen, und die Heeresleitung, aber auch der Innenminister Frick immer wieder glauben, sich vor einer SA, die sich selbstständig machen könnte, fürchten zu müssen. Da kann es nur Vertrauen schaffen, wenn sich das Hauptquartier des SA-Stabes in nächster Nähe und damit direkt in der Hand des Führers befindet. Es wird immer wieder vergessen, dass kein anderer als der Führer selbst den Rang des ‚Obersten SA-Führers‘ innehat! – So, und für dieses SA-Hauptquartier ist nun von irgendeinem der Berliner Verwaltungsbonzen, wie wir unter der Hand erfahren haben, ein bestimmtes Objekt ausgeguckt worden, in das wir demnächst einziehen sollen. Den Stabschef Röhm interessiert es natürlich brennend, ob das Gebäude für unsere Zwecke überhaupt ausreichend ist und ob es unseren Bedürfnissen, aber vor allem auch unserer Bedeutung entspricht. Denn wenn wir uns querstellen wollen, kann das nicht früh genug geschehen.“

      „Und ganz unter uns“, fuhr er leiser fort, „mich interessiert das auch persönlich, denn der Stabschef will mich mit nach Berlin nehmen – aber das ist natürlich auch streng vertraulich und weiß hier im Haus keiner! – Die ganze Angelegenheit ist deshalb so diffizil, weil die jetzigen Besitzer keinesfalls erfahren dürfen, dass sie das Gebäude räumen müssen, aber die fliegen in aller Kürze raus. Deshalb – und weil natürlich auch die Parteispitze in Berlin möglichst nicht erfahren soll, dass die SA schon heimlich Erkundigungen über dieses Objekt einholt –, deshalb wollten wir auch keinen aus dem Münchener Stab als Auskundschafter nach Berlin schicken – so etwas kann ja immer mal auffliegen –, sondern ich habe dem Obergruppenführer, der den ganzen Umzug leiten soll, vorgeschlagen, einen unserer Leute von hier zu nehmen, den in Berlin keiner kennt – und das bist du.

      Wenn du also irgendwelche Probleme bekommst, wenn du irgendwo aussagen musst, was du da tust, dann überlege dir irgendetwas Vernünftiges, aber sag’ keinesfalls – hörst du: keinesfalls! –, dass du für die SA-Führung in München das Gebäude ausbaldowern sollst.

      So, hier hast du die Adresse in Berlin, Herkommer. Und da quittierst du mir 100 Reichsmark in bar für die Bahnfahrt und den Aufenthalt in Berlin – hinterher genau abrechnen! Hier ist noch ein verschlossener Briefumschlag mit weiteren 100 Reichsmark für alle Fälle, den Klebestreifen mit dem Dienstsiegel nur im Notfall öffnen und alle Entnahmen auf dem Ausgabenzettel, der dabeiliegt, eintragen und die Belege und Quittungen dazulegen.“

      Herkommer begann noch am gleichen Nachmittag damit, sich bis zur Abfahrt seines Zuges im Einschätzen der Quadratmeterzahl von Räumen zu üben; wer weiß, ob er in Berlin Gelegenheit haben würde, die Räume auszumessen. Das war ganz einfach, er musste nur das Schätzen kleinerer Strecken von vielleicht drei bis zehn Metern einigermaßen beherrschen, weshalb er den halben Nachmittag über einen Zollstock mit sich herumtrug. Er war erstaunt, wie rasch er sich mit seinen Schätzungen verbessern konnte. –

      In Berlin Anhalter Bahnhof angekommen, studierte er in der Bahnhofshalle den am Ausgang angebrachten großen Stadtplan ‚Groß-Berlin‘ – meine Güte! – und dann den Plan ‚Berlin-Mitte‘