Da unterbrach ihn Fellgiebel heftig. „Was sagen Sie da? Um Gottes willen, nein!“, rief er bestürzt aus, als ob er dem Ortsgruppenleiter beim Bewältigen seines Irrtums beispringen wollte. „Das ist eines der bedeutendsten Werke von Friedhelm Büngener, ein Original-Aquarell! Friedhelm Büngener, übrigens ein Alt-Parteigenosse, hat durchaus einen Namen und nimmt auch, soviel ich weiß, in der Reichskammer für bildende Künste eine wichtige Funktion wahr.“
Der Ortsgruppenleiter war für einen Augenblick unsicher geworden. „Ein Alt-Parteigenosse? Also ein Alter Kämpfer mit dem goldenen Parteiabzeichen?“
Da stimmte Fellgiebel dem Ortsgruppenleiter zum ersten Mal in diesem Gespräch zu, aber zugleich verbesserte er ihn auch: „Ja, gewiss! Sie meinen mit dem goldenen Parteiabzeichen sicherlich das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP. – Und wenn Sie wissen wollen, warum ich so lange überhaupt kein Hitlerbild in der Praxis hängen hatte: Weil ich auf eben dieses Bild gewartet habe, das den Führer trifft wie kein anderes. Ihn nicht vordergründig abbildet wie irgendein Foto – davon haben wir genug –, sondern weil es sein innerstes Wesen erfasst und es dem Kenner offenbart. – Ich vermute“, fügte er in höhnischem Pathos noch hinzu, „dass Ihr feiner Gewährsmann – gewiss kein Beurteiler mit einem geschulten Auge! – den Rang dieses Bildes nicht zu erfassen vermochte und seiner Wucht einfach nicht gewachsen war.“
Der Ortsgruppenleiter schwieg für einen Augenblick, Fellgiebel spürte, wie er zwischen Wohlwollen und gefährlicher Angriffslust schwankte.
Das Telefon läutete, der Ortsgruppenleiter nahm ab und wirkte schon nach wenigen Sekunden äußerst konzentriert, wahrscheinlich eine wichtige dienstliche Angelegenheit von oben. Fellgiebel nutzte den Augenblick und sagte, als wolle er nicht länger stören, fast triumphierend ‚Heil Hitler!‘, nickte dem Ortsgruppenleiter dabei freundlich zu und schickte sich an zu gehen, und der Ortsgruppenleiter stimmte zu, indem er ihn kurz anblickte und für einen Moment, kaum merklich nickend, die Augen schloss.
Auf dem Heimweg war Fellgiebel zunächst recht vergnügt gewesen und zufrieden mit sich und mit dem Theater, das er dem Ortsgruppenleiter vorgespielt hatte. Er war gewiss kein böser Mensch, aber er liebte es eben, andere Leute – ohne ihnen freilich ernsthaft zu schaden – ein bisschen hereinzulegen, mit ihnen zu spielen und schlauer zu sein als sie, vor allem dann, wenn es Leute waren, die mächtiger waren als er und die glaubten, auch über ihn Macht zu haben. Aber dann fiel ihm ein, dass ihm am Schluss des Gespräches dieses ‚Heil Hitler‘ nicht hätte herausrutschen dürfen, obwohl es als Schlusspunkt ja gar nicht schlecht gepasst hatte. Aber solche Fehler unterlaufen einem nun einmal, erst zieht man alle Register, um diesen Hitlergruß zu vermeiden, und dann wirft man ihn freiwillig hinterher, das ärgerte ihn.
Als ihn dann plötzlich die Sorge befiel, dass sein Gespräch mit dem Ortsgruppenleiter vielleicht doch noch üble Folgen für ihn haben könnte, trübte sich seine Stimmung weiter ein. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, weil er spürte, wie die ängstliche Unruhe, die mit dieser Sorge verbunden war, sein ganzes Befinden vergiftete. Aber die Sorge sprang ihn auf seinem Heimweg immer wieder aufs Neue an, und die Gefahr, die ihm vom Ortsgruppenleiter drohte, erschien ihm von Mal zu Mal größer. Er wurde immer kleinmütiger, und sein Gespräch mit dem Ortsgruppenleiter kam ihm jetzt gar nicht mehr so souverän geführt vor, und als er schließlich zu Hause angekommen war, da war er, entgegen seinem sonstigen Verhalten, eingeschüchtert und kleinlaut geworden. Im Büro der Ortsgruppe, wo er noch groß getönt hatte, da hatte er im Ortsgruppenleiter noch ganz seinen ehemaligen Patienten gesehen, aber jetzt war der Ortsgruppenleiter plötzlich zum verlängerten Arm, zum Tentakel eines krakenhaften Systems geworden, das unbarmherzig nach ihm griff.
Zum ersten Mal hatte Fellgiebel Angst vor dem Regime. Vielleicht bin ich manchmal doch ein bisschen ein Maulheld, dachte er, und dann wieder ein bisschen ein Angsthase, beides in einem. –
Fellgiebels Adoptivsohn lebte sich nur langsam in seiner neuen Umgebung in Mannheim ein. Jan war ein stiller Junge, der zwar stets freundlich, aber immer auch mit einer leisen Distanz seine Umgebung beobachtete. ‚Wenn ich nur wüsste, wie er tatsächlich ist‘, sagte Fellgiebel hin und wieder, der an der Eingewöhnung seines Adoptivsohns regen Anteil nahm, ‚oder wie er eigentlich ist‘, doch Marianna sah das ganz anders. ‚Jan ist so, wie er ist – so ist er, da gibt es kein eigentlich und kein tatsächlich. Und wie er sein wird, wenn er sich vollständig eingelebt hat, das liegt ganz bei uns.‘
Jan hatte das Gröbste schon hinter sich. So versprach er sich schon lange nicht mehr, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde, weil ihm inzwischen genügend gegenwärtig war, dass er jetzt Jan Fellgiebel hieß. Aber eigentlich fühlte er sich immer noch als Jean Hossenlopp, und der Name Fellgiebel, obwohl er ihm ganz gut gefiel, war nur eine Haube, die ihm übergestülpt worden war. ‚Aber das weißt du doch!‘, hatte ihn neulich der Klassenlehrer sanft getadelt, als er sich wieder einmal verhaspelt hatte, und das war ihm peinlich gewesen, nicht nur weil die ganze Klasse gelacht hatte. Natürlich hatte er das gewusst! Aber sein Versprecher hatte mit dem, was er wusste, nicht viel zu tun.
Enrico, sein Banknachbar und neuer Freund, der zu einer verzweigten Artistenfamilie drüben auf dem Waldhof gehörte und sich vom ersten Tag an hilfsbereit um ihn gekümmert hatte, gab ihm in der Pause recht: Etwas richtig zu wissen, heiße noch lange nicht, es richtig zu tun, das würde ihnen bei der artistischen Ausbildung immer wieder eingetrichtert; nicht Wissen müsse man erwerben, sondern Automatismen, heiße es da, und das gelte auch für das Sprechen. Wissen könne dabei ganz nützlich sein, manchmal aber würde es einem auch im Weg stehen, und besonders schwer sei es, einen bereits erworbenen Automatismus aufzugeben und ihn durch einen neuen zu ersetzen, das sei ihm früher einmal bei der Parterreakrobatik passiert, und restlos würde man wahrscheinlich einen alten Automatismus nie loswerden, und ‚Hossenlopp‘ zu sagen, das sei ein solcher Automatismus. Von Automatismen hatte Jan noch nie etwas gehört, aber was ihm Enrico da erzählte, leuchtete ihm ein.
Auch das lähmende Heimweh hatte Jan inzwischen überwunden. Es war ein eigentümliches Heimweh gewesen, und ihm war deshalb so schwer zu entkommen, weil es nur noch aus der Trauer und aus Lethargie bestand, jedoch die Sehnsucht wonach, die sonst ein Heimweh vor allem bestimmt, die fehlte bei ihm gänzlich. Wonach hätte er sich auch sehnen sollen? Der Jan ist zu oft umgetopft worden, hatte neulich der Klassenlehrer gesagt.
An die Zeit vor Hossenlopps, das musste in einem Kinderheim in Frankreich gewesen sein, hatte er nur noch ganz vage Erinnerungen, eigentlich überhaupt keine mehr, auch seine Schwester Germaine tauchte erst in der Hossenlopp-Zeit in seinen Erinnerungen auf und wurde dann immer wichtiger für ihn. Nach dem Tod der Eltern hatte man sie beide in das Kinderheim in Herrlingen getan, was sie erst so richtig zusammengeschweißt hat, doch es war nicht lange gegangen, bis man das ganze Kinderheim zusammengepackt hatte und aufgebrochen war nach Palästina, während er im Krankenhaus landete. An seiner Stelle wurde Fellgiebels behinderter Sohn Siegfried mitgegeben. Von da an war er endgültig allein gewesen. Er war in das Internat nach Stefansfeld gekommen, was nicht schlecht war, aber zusammen mit Germaine wäre es gewiss erträglicher gewesen. Aber auch das war nicht lange gegangen. Kaum war er mit der neuen Situation einigermaßen vertraut – alles war neu gewesen für ihn: neue Erzieher und neue Lehrer, neue Kameraden und neue Orte, neue Schulbücher und neue Kleider –, da war er von seinem jetzigen Stiefvater dringend nach Mannheim ‚zurückbeordert‘ worden, wie dieser in einem langen Brief an ihn schrieb ‚zurückbeordert‘ nach Mannheim, obwohl er vorher noch nie dort gewesen war.
Die Not in seinem neuen Elternhaus war tatsächlich groß. Fellgiebels Frau Marianna war schon bald nach der Ausreise ihres Sohnes Siegfried in eine schwere Krise geraten. Obwohl sie in dieser Ausreise die einzige Rettung für Siegfried sah, hatte sie sich nicht von dem immer wieder aufsteigenden Selbstvorwurf befreien können, Siegfried abgeschoben zu haben. Eine große Leere war über sie gekommen, die im Laufe der Zeit vielleicht überwindbar gewesen wäre, hätte sie sich nicht allmählich mit einer schweren Depression aufgefüllt.
„Ich liebe Siegfried so sehr“, hatte sie tonlos bekannt, „und das tut hier so weh!“, wobei