Nachdem er diese Worte seinem Sohn ins Ohr geraunt hatte, schlüpfte dieser durch den Wald wie ein Aal durch den Schlamm, und Michu sprach zu seiner Frau:
»Aufs Pferd! Und bitte Gott, dass er mit uns ist. Halte dich gut. Mag das Tier verrecken.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen; so rannte das Pferd, von zwei Fußstößen Michus getrieben und von seinen starken Knien gepresst, mit der Schnelligkeit eines Rennpferdes los. Es schien seinen Herrn zu verstehen: in einer Viertelstunde war der Wald durchquert. Ohne vom kürzesten Wege abgewichen zu sein, befand Michu sich an einer Stelle des Waldsaumes, wo die mondbeschienenen Dächer des Schlosses auftauchten. Er band sein Pferd an einen Baum und stieg behänd auf den kleinen Hügel, von dem man das Tal von Cinq-Cygne überschaute.
Das Schloss, das Michu und Martha einen Augenblick zusammen anschauten, macht in der Landschaft einen reizvollen Eindruck. Obgleich weder durch Umfang noch Bauart hervorragend, besitzt es ein gewisses archäologisches Interesse. Der alte Bau aus dem fünfzehnten Jahrhundert, auf einer Anhöhe gelegen und von tiefen, breiten und noch gefüllten Wassergräben umgeben, ist aus Feldsteinen und Mörtel errichtet, aber seine Mauern sind sieben Fuß dick. Seine Schlichtheit gemahnt wunderbar an das raue, kriegerische Leben der Feudalzeit. Dies wirklich echte Schloss besteht aus zwei dicken rötlichen Türmen, die durch ein langes Wohngebäude mit Steinfenstern getrennt sind, deren grob gearbeitete Kreuze Weinranken gleichen. Die Treppe liegt mitten vor der Außenmauer in einem fünfeckigen Turme mit kleiner Spitzbogenpforte. Das Erdgeschoß, im Innern im Stil Ludwigs XIV. modernisiert, wie auch das erste Stockwerk, wird von ungeheuren Dächern überragt, die von Fenstern mit gemeißelten Giebeln durchbrochen werden. Vor dem Schloss liegt ein weiter Wiesenplan, dessen Bäume vor kurzem gefällt waren. Zu beiden Seiten der Eingangsbrücke liegen zwei Häuschen, die als Gärtnerwohnung dienen, durch ein dürftiges, charakterloses, offenbar modernes Gitter getrennt. Rechts und links von dem Wiesenplan, den eine gepflasterte Straße mitten durchteilt, ziehen sich die Pferde- und Kuhställe, die Scheunen, die Holzschuppen, das Backhaus, die Hühnerställe und Gesindewohnungen hin, offenbar in den Überresten zweier Flügel untergebracht, die dem jetzigen Schloss ähnlich waren. In früheren Zeiten muss dies Kastell ein Viereck gewesen sein, das an den vier Ecken befestigt und von einem gewaltigen Turm mit gewölbtem Tor verteidigt war, an dessen Fuß sich an der Stelle des Gitters eine Zugbrücke befand. Die beiden dicken Türme, deren kegelförmige Dächer noch nicht abgetragen waren, und der Glockenstuhl des Mittelturmes gaben dem Dache Charakter. Ein paar Schritte davon ragte der spitze Turm der gleichfalls alten Kirche, der mit den Massen dieses Kastells im Einklang stand. Der Mond ließ alle Firste und Dachspitzen leuchten und umspielte sie mit flimmerndem Lichte.
Michu betrachtete diesen alten Herrensitz mit einem Blicke, der die Gedanken seiner Frau umwarf, denn sein Gesicht war ruhiger geworden und zeigte einen Ausdruck von Hoffnung und eine Art Stolz. Dann überschaute er den Gesichtskreis mit einem gewissen Misstrauen: es musste gegen neun Uhr sein; der Mondschein fiel auf den Waldrand, und die Anhöhe war besonders stark beleuchtet. Dieser Standpunkt schien dem Verwalter gefährlich; er stieg hinab, als fürchtete er, gesehen worden zu sein. Doch kein verdächtiges Geräusch störte den Frieden des schönen Tales, das auf dieser Seite vom Walde von Nodesme umschlossen wurde. Martha, die von dem scharfen Ritt erschöpft war und zitterte, erwartete irgendeine Lösung. Wozu hatte er sie mitgenommen? Zu einer guten Tat oder zu einem Verbrechen?
In diesem Augenblick sagte Michu seiner Frau ins Ohr:
»Du wirst zur Gräfin Cinq-Cygne gehen und sie zu sprechen verlangen. Wenn du sie siehst, bitte sie, beiseite zu kommen. Wenn niemand euch hören kann, wirst du zu ihr sagen: ›Gnädiges Fräulein, das Leben Ihrer beiden Vettern ist in Gefahr, und der Mann, der Ihnen das Wie und Warum erklären wird, wartet.‹ Hat sie Angst, ist sie misstrauisch, so setze hinzu: ›Sie gehören zur Verschwörung gegen den Ersten Konsul, und die Verschwörung ist entdeckt.‹ Nenne deinen Namen nicht, man misstraut uns zu sehr.«
Martha Michu hob den Kopf zu ihrem Manne und sprach:
»So dienst du ihnen?«
»Nun, und was weiter?« fragte er stirnrunzelnd, denn er glaubte an einen Vorwurf.
»Du verstehst mich nicht!« rief Martha aus und ergriff Michus breite Hand. Dann fiel sie vor ihm auf die Knie und küsste diese Hand, die sich plötzlich mit Tränen bedeckte.
»Lauf! Weinen kannst du nachher«, sagte er, sie heftig umarmend.
Als er den Schritt seiner Frau nicht mehr hörte, traten dem eisernen Manne Tränen in die Augen. Er hatte Martha wegen der Ansichten ihres Vaters misstraut, aber die Schönheit ihres schlichten Charakters war ihm plötzlich aufgegangen, wie ihr die Größe des seinen klar wurde. Martha geriet aus der tiefen Demütigung, die die Missachtung eines Mannes verursacht, dessen Namen man trägt, in das Entzücken, die sein Ruhm bereitet. Der Übergang war so plötzlich, dass sie der Ohnmacht nahe war. Wie sie ihm später erzählte, hatte sie vom Pavillon bis Cinq-Cygne in ihrer Angst und Sorge Blut geschwitzt und einen Augenblick hatte sie sich unter die Engel des Himmels entrückt gefühlt. Er, der sich nicht verstanden fühlte, der das grämliche, schwermütige Wesen seiner Frau für einen Mangel an Liebe hielt, hatte sie sich selbst überlassen und draußen gelebt, seine ganze Zärtlichkeit auf seinen Sohn geworfen, aber nun hatte er im Nu begriffen, was die Tränen dieser Frau bedeuteten: sie verfluchte die Rolle, die ihre Schönheit und der Wille ihres Vaters sie zu spielen zwang. Das Glück hatte in seinen schönsten Flammen für sie geleuchtet, wie ein Blitz im Gewitter. Ja, es musste ein Blitz sein! Beide dachten an zehn Jahre des Missverstehens und jeder gab sich allein die Schuld. Michu blieb unbeweglich stehen, den Ellbogen auf der Büchse und die Hand am Kinn, in tiefes Sinnen verloren. In solchen Augenblicken heißt man alle Schmerzen der schmerzlichsten Vergangenheit gut.
Von tausend ähnlichen Gedanken bestürmt, fühlte Martha sich auch noch durch die Gefahr der Simeuses bedrückt, denn sie begriff alles, selbst die Gesichter der beiden Pariser; nur die Büchse war ihr unerklärlich. Wie eine Hirschkuh lief sie dahin und erreichte den Weg nach dem Schloss. Zu ihrer Bestürzung hörte sie hinter sich die Schritte eines Mannes und schrie auf, aber Michus breite Hand schloss ihr den Mund.
»Von dem Hügel aus sah ich in der Ferne das Silber auf den Hutborten glänzen! Geh durch die Bresche des Grabens zwischen dem Damenturm und den Ställen, dann werden die Hunde dich nicht anbellen. Geh in den Garten, ruf die junge Gräfin durchs Fenster; lass ihr Pferd satteln; sage ihr, sie solle es durch die Bresche führen. Ich werde dort sein, sobald ich den Plan der Pariser erforscht und herausgekriegt habe, wie man ihnen entgehen kann.«
Die Gefahr, die wie eine Lawine rollte und der man zuvorkommen musste, gab Martha Flügel.
Der fränkische Name, den die Cinq-Cygnes und die Chargeboeufs gemeinsam trugen, war Duineff. Cinq-Cygne wurde der Name des jüngeren Zweiges der Chargeboeufs, nachdem fünf Töchter dieses Hauses in Abwesenheit ihres Vaters ein Kastell verteidigt hatten. Alle waren auffallend bleich, und kein Mensch hätte von ihnen ein solches Benehmen erwartet. Einer der ersten Grafen der Champagne wollte durch diesen hübschen Namen die Erinnerung daran verewigen, solange die Familie lebte. Seit jener seltsamen Waffentat waren die Töchter dieses Hauses stolz, aber vielleicht nicht alle bleich. Die letzte, Laurence, war entgegen dem salischen Gesetz die Erbin des Namens, des Wappens und der Lehen. Der König von Frankreich hatte den Lehnsbrief des Grafen der Champagne bestätigt, wonach in dieser Familie die Frau den Adel verleihen und erben sollte. Laurence war also Gräfin von Cinq-Cygne; ihr Gatte musste ihren Namen und ihr Wappen annehmen, auf dem als Wappenspruch die stolze Antwort stand, die die älteste der fünf Schwestern auf die Aufforderung zur Übergabe des Schlosses gab:
»Singend sterben!« Dieser schönen Heldinnen würdig, hatte Laurence eine so weiße Haut, als hätte der Zufall eine Wette gemacht. Die geringsten Verästelungen ihrer blauen Adern schimmerten durch das feine und feste Hautgewebe hindurch. Ihr Haar vom schönsten Blond stimmte wunderbar zu ihren tiefblauen Augen. Alles an ihr war zierlich. Doch in ihrem schmächtigen Körper lebte trotz