»Machen Sie Naïs nicht für die Eitelkeit eines jungen Menschen verantwortlich, der voller Stolz darauf ist, dass er sich in einer Welt befindet, in die er niemals zu kommen hoffte«, sagte Châtelet. »Sehen Sie nicht, dass dieser Chardon die anmutigen Phrasen einer Weltdame für ein gewisses Entgegenkommen hält? Er kennt noch nicht den Unterschied zwischen der Verschwiegenheit der wahren Leidenschaft und der Beredsamkeit der Protektion, die seine Schönheit, seine Jugend und sein Talent verdienen! Die Frauen wären sehr beklagenswert, wenn sie für alle Wünsche verantwortlich wären, die sie uns einflößen. Er ist sicher verliebt, aber Naïs ...«
»O, Naïs,« erwiderte die boshafte Amélie, »Naïs ist sehr glücklich über diese Leidenschaft. In ihrem Alter hat die Liebe eines jungen Mannes so viel Verführerisches! Man wird bei ihm wieder jung, man macht sich zum jungen Mädchen, man nimmt die Manieren, das ängstlich verlegene Wesen des jungen Mädchens wieder an, und man denkt nicht an die Lächerlichkeit ... Sehen Sie nur an, der Sohn eines Apothekers spielt sich bei Frau von Bargeton als Herr auf!«
»Die Liebe kennt nicht solche Schranken«, trällerte Adrian.
Am nächsten Tag gab es kein einziges Haus in Angoulême, in dem man nicht von der großen Intimität zwischen Herrn Chardon, alias von Rubempré, und Frau von Bargeton sprach: sie, die kaum ein paar Küsse getauscht hatten, wurden von der Welt schon des sträflichsten Glückes bezichtigt. Frau von Bargeton erntete nun die Strafe für ihre Stellung als Königin von Angoulême. Zum Seltsamsten in den Absonderlichkeiten der Gesellschaft gehören diese ihre launenhaften Urteile und ihre verrückten Anforderungen. Es gibt Menschen, denen alles erlaubt ist: sie können die unvernünftigsten Dinge machen, ihnen steht alles wohl an; alle beeifern sich, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Aber es gibt andere, gegen die die Welt unglaublich streng ist: die müssen alles recht machen, dürfen sich nie täuschen, nie einen Fehler machen, nicht einmal eine Dummheit begehen; man könnte sie für bewunderte Statuen halten, die man von ihrem Postament nimmt, sowie der Frost ihnen einen Finger oder die Nase beschädigt hat; man gestattet ihnen nichts Menschliches, sie sind verpflichtet, immer göttlich und vollkommen zu sein. Ein einziger Blick, den Frau von Bargeton Lucien zuwarf, galt da ebensoviel wie die zwölf Jahre Liebesglück zwischen Zizine und Francis. Ein Händedruck zwischen den beiden Liebenden zog alle Blitzstrahlen der Charente auf sie herab. David hatte aus Paris geheime Ersparnisse mitgebracht, die er für die Kosten, die die Hochzeit erforderte, und für den Aufbau des zweiten Stockwerks des väterlichen Hauses bestimmte. Dieses Haus vergrößern, hieß doch für sich selbst arbeiten. Früher oder später musste es ihm anheimfallen; sein Vater war achtundsiebzig Jahre alt. Der Buchdrucker ließ also die Wohnung Luciens aus Fachwerk errichten, um die alten Mauern des rissigen Hauses nicht zu überlasten. Es machte ihm Freude, die Wohnung im ersten Stock, wo die schöne Eva ihr Leben verbringen sollte, artig einzurichten und zu schmücken. Es war für die beiden Freunde eine Zeit ungetrübter Heiterkeit und Freude. Lucien war wohl der erbärmlichen Verhältnisse des Provinzdaseins müde und hatte die schmutzige Knickrigkeit satt, die aus einem Hundertsousstück eine enorme Summe machte, aber er ertrug doch, ohne zu klagen, die sorglichen Überlegungen der Armut und ihre Entbehrungen. Seine düstere Melancholie war dem strahlenden Ausdruck der Hoffnung gewichen. Er sah über seinem Haupte einen Stern strahlen, er träumte von einem schönen Dasein und pflanzte sein Glück auf dem Grabe des Herrn von Bargeton auf, der es von Zeit zu Zeit mit schweren Verdauungsstörungen und der glücklichen Manier hatte, die Unbehaglichkeiten nach dem Mittagessen für eine Krankheit zu halten, die man mit denen nach dem Abendessen kurieren müsste.
Anfang September war Lucien kein Faktor mehr, er war Herr von Rubempré und wohnte, im Vergleich mit der elenden Dachkammer, in der der kleine Chardon in Houmeau gehaust hatte, ganz prächtig, er war nicht mehr einer aus Houmeau, er bewohnte die Oberstadt Angoulême und speiste nahezu viermal wöchentlich bei Frau von Bargeton. Monseigneur hatte eine Freundschaft für ihn gefasst, und er fand Zutritt im Bischofspalast. Seiner Beschäftigung nach gehörte er zum Rang der höchstgestellten Personen. Schließlich musste er eines Tages unter die Berühmtheiten Frankreichs aufgenommen werden. Gewiss, wenn er seinen hübschen Salon, sein reizendes Schlafzimmer und sein sehr geschmackvolles Studierzimmer betrachtete, konnte er sich darüber trösten, dass er von den so schwer verdienten Löhnen seiner Schwester und seiner Mutter dreißig Franken monatlich nahm; denn er sah den Tag kommen, wo der historische Roman, an dem er seit zwei Jahren schrieb, »Der Bogenschütze Karls IX.«, und ein Band Gedichte, der »Die Margueriten« heißen sollte, seinen Namen in der literarischen Welt bekannt machen und ihm so viel Geld verschaffen sollten, dass er seiner Mutter, seiner Schwester und David das geschuldete Geld zurückzahlen konnte. Er fühlte sich, er hörte von seinem Namen die Zukunft schallen, und so nahm er diese Opfer mit vornehmer Ruhe entgegen: er lächelte über seine Not, fand an der letzten Wende seiner Armut einen Genuss. Eva und David hatten das Glück ihres Bruders ihrem eigenen vorangestellt, die Hochzeit verzögerte sich noch, weil die Handwerker mit den Möbeln, den Malereien, den Tapeten für den ersten Stock noch nicht fertig waren, denn die Sachen für Lucien waren zuerst erledigt worden. Wer Lucien kannte, konnte sich über diese Hingebung nicht wundern: er war so verführerisch! seine Art war so schmeichlerisch! er drückte seine Ungeduld und seine Wünsche so reizend aus! seine Sache war immer gewonnen, bevor er noch den Mund auftat. Diese verhängnisvolle Gabe verdirbt mehr junge Leute, als sie zum Heil ausschlägt. Viele von diesen großen Kindern gewöhnen sich an die Zuvorkommendheit, die man einem angenehmen jugendlichen Äußern entgegenbringt, freuen sich über den egoistischen Schutz, den die Welt jemandem gewährt, der ihr gefällt, wie sie ja auch dem Bettler, der zu ihrem Gefühl spricht, ein Almosen gibt, und sie genießen diese Gunst, anstatt sie nützlich zu verwenden. Sie täuschen sich über den Sinn und die Veränderlichkeit der sozialen Beziehungen und glauben immer, dass ihnen dies trügerische Lächeln werden müsse; aber der Augenblick, wo die Welt sie wie alte Koketten und unbrauchbare Lumpen an der Tür eines Salons und an einem Grenzpfahl verlässt, findet sie nackt, kahl, geplündert, ohne Geld und ohne Vermögen. Eva hatte überdies diesen Aufschub gewünscht, sie wollte alles, was für einen jungen Haushalt notwendig ist, mit möglichster Sparsamkeit einrichten. Was hätten zwei Liebende einem Bruder abschlagen können, der wohl, wenn er seine Schwester arbeiten sah, mit einem Ton, der vom Herzen kam, sagte: »Ich wollte, ich könnte nähen!« Und dann war der ernste, beobachtende David mitschuldig an dieser Opferwilligkeit. Trotzdem betrachtete er seit dem Triumph Luciens bei Frau von Bargeton die Umwandlung, die mit ihm vorging, mit ängstlichen Blicken; er fürchtete, Lucien könnte lernen, die Bürgersitten zu verachten. In dem Wunsch, seinen Bruder auf die Probe zu stellen, brachte David ihn einigemal vor die Wahl zwischen den patriarchalischen Freuden der Familie und den Vergnügungen der großen Welt, und wenn es vorkam, dass Lucien ihnen seine eitlen Genüsse preisgab, hatte er wohl ausgerufen: »Man wird ihn uns nicht verderben!« Mehreremal machten die drei Freunde und Frau Chardon miteinander Ausflüge, wie man sie in der Provinz macht: sie gingen in den Wäldern spazieren, die in der Nähe Angoulêmes am Ufer der Charente sich erstrecken; sie verspeisten ihre Vorräte, die Davids Lehrling zu einer bestimmten Stunde an einen verabredeten Ort gebracht hatte, im Grünen; dann kehrten sie abends ein wenig ermüdet heim und hatten noch keine drei Franken ausgegeben. Wenn es hoch kam, aßen sie in einem ländlichen Gasthaus zu Mittag, das die Mitte hielt zwischen einer Provinzkneipe und einer Pariser Schenke, und brachten es bis zu hundert Sous, die zwischen David und den Chardons verteilt wurden. David rechnete es Lucien sehr hoch an, dass er bei diesen ländlichen Festen die Genüsse vergaß, die er bei Frau von Bargeton und den üppigen Diners der großen Welt zu finden gewohnt war, denn jeder wollte jetzt den großen Mann von Angoulême feiern.
Unter solchen Umständen und in einem Augenblick, wo fast alles für den künftigen Haushalt bereit war – David war nach Marsac gereist, um seinen Vater zu bewegen, der Hochzeit beizuwohnen, da er hoffte, der Alte werde, wenn ihm seine Schwiegertochter gefiele, zu den sehr großen Unkosten des Umbaues etwas beitragen –, ereignete sich eines der Geschehnisse, die in einer Kleinstadt allen Dingen ein anderes Gesicht geben. Lucien und Louise hatten in Châtelet einen geheimen Spion, der mit der Hartnäckigkeit seines Hasses, dem sich Leidenschaft und Habgier gesellen, auf die Gelegenheit lauerte, einen Skandal herbeizuführen. Sixtus wollte Frau von Bargeton zwingen, sich so für Lucien zu kompromittieren, dass sie das werden musste, was man ›verloren‹ nennt. Er benahm sich als schlichter Vertrauter der Frau von Bargeton; aber