In Amsel lebte der Sanitätsrat, der verwitwet war, mit seiner Tochter Marion, einer älteren Hausdame Rebekka und einigen Dienstboten. Rebekka war wie die Herrin im Hause. Sie hatte Marion von Kindheit an wie eine Mutter erzogen und wurde Mamuschka genannt.
Als Fabian nach kurzer Autofahrt vor Amsel ankam, vernahm er vom Hause her ein heiteres, herzliches Lachen, an dem er sofort die ausgelassene Heiterkeit Marions erkannte. Zur gleichen Zeit erblickte er auch Marion, die unter einem Busch auf einer Steinbank saß und mit einem kleinen weißen Kätzchen spielte, das auf ihrem schwarzen lockeren Haarschopf herumkletterte. Marion neckte das Kätzchen mit einem kleinen Zweig, nach dem das Kätzchen gierig hechelte. Als sie die Gartentüre hörte und Fabian erblickte, sprang sie sofort auf, ohne sich um das Kätzchen im geringsten zu kümmern, und kam ihm, noch das ausgelassene Lachen auf den Lippen, rasch entgegen.
«Herrlich, dass Sie kommen, Doktor». rief sie ihm zu und reichte ihm die Hand. Das Kätzchen glitt dabei über ihre Schulter auf den Weg herab und flüchtete eilig in die Büsche.
Marion war ein junges Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit und Frische. Sie machte den Eindruck einer dunkelhäutigen Italienerin mit schwarzen Haarlocken und dunklen Augen, die wie Steinkohle aus dem bläulichen Weiß funkelten. Etwa zwanzig Jahre alt, trieb sie leidenschaftlich Sport. Sie galt als eine der vorzüglichsten Tennisspielerinnen der Stadt und gewann vor zwei Jahren das große Klubturnier. Ihr heiteres, herzliches Lachen war überall bekannt, es umflatterte sie Tag und Nacht wie bunte Schmetterlinge. Die Frische und Heiterkeit, mit der sie das Leben hinnahm, hatte sie in der ganzen Stadt beliebt gemacht. Natürlich war sie stets von einer Schar von Verehrern und Bewunderern umschwärmt. Auch der junge Oberleutnant Wolf von Thünen machte ihr vor Jahren auffällig den Hof[41]. Er war damals bis über die Ohren in sie verliebt und erzählte in dieser Zeit allen seinen Kameraden, dass er sich bald mit Marion verloben werde. Aber daran war nichts wahr.
«Papa freut sich ganz ungeheuer, dass Sie zu uns herauskomme», rief Marion aus, als sie Fabian zum Hause geleitete.
«Das Semester hat wohl noch nicht begonnen». begrüßte sie Fabian, der Marion seit Monaten nicht gesehen hatte. Marion studierte Medizin und wollte sich später als Röntgenologin im Institut ihres Vaters ausbilden. Das junge Mädchen errötete jäh. Wie eine Flamme schoss ihr das Blut in die Wangen, so dass sie jetzt noch mehr einer Italienerin ähnlich sah, die von der glühenden Sonne verbrannt war.
«O nei», stotterte sie, «o nein, mit dem Semester ist es diesmal nichts geworden». Sie brach unvermittelt ab und strich sich ordnend über das schwarze Haar, das das Kätzchen zerwühlt hatte. «Sie haben vergessen, dass ich zur Zeit als Hilfslehrerin in unserer Schule beschäftigt bi», fügte sie hinzu.
In diesem Augenblick wandte sie sich ab und ging voran ins Haus. «Sie erlauben, dass ich vorangeh», rief sie mit ihrer hellen Stimme. «Bitte, treten Sie ein. Papa wartet schon sehnsüchtig auf Sie». Fabian folgte ihr zögernd und betreten. Ihr jähes Erröten und die unerklärliche Hast hatten ihn erschreckt. In dieser Sekunde fiel ihm ein, dass er eine unverzeihliche Taktlosigkeit begangen hatte: Marion war ja Jüdin! Er hatte es im Moment völlig vergessen.
Welch unbegreifliche Torheit, die Frage nach dem Semesterbeginn! schoss es ihm durch den Kopf. Er errötete voller Beschämung und war glücklich, dass ihn niemand beobachtete.
Da hörte er Marions frische Stimme, die laut in die Halle hineinrief: «Mamuschka, Mamuschka». Er atmete auf, niemand hatte seine Verwirrung bemerkt.
Im gleichen Moment kam auch schon die Hausdame Rebekka aus einer Tür, gefolgt von einem Mädchen, das eine Schüssel voll ausgesuchter Birnen trug.
«Welch herrliche Birnen Sie da haben». rief Fabian aus.
«Es ist die Köstliche aus Charne», sagte Rebekka und presste Fabian herzlich die Hand, wobei sie ihm dankbar in die Augen blickte. Sie hielt seine Hand fest und liebkoste sie mit ihren weichen Händen.
«Haben Sie vielen Dank, dass Sie zu uns herauskommen. Wir sehen nur selten Menschen bei uns. Zuweilen kommt Ihr Bruder Wolfgang zu uns, jede Woche auch Herr Gleichen. Sonst aber haben uns alle vergessen».
«Ich werde Herrn Doktor Fabian bei Papa anmelden, Mamuschk», rief Marion und eilte durch die Diele. «Sie kennen ja den Weg, Papa ist oben auf der Terrasse». Leichtfüßig rannte sie die Treppe empor. Das weiße Kätzchen war ihr, ohne dass jemand es beobachtet hatte, gefolgt. Es flog hinter ihr her, kletterte blitzschnell auf ihren Rücken und ihren Kopf.
«Da ist Michel wieder, Mamuschk», schrie Marion lachend, und man hörte ihr Gelächter noch, als sie die Tür hinter sich schloss.
«Sie ist nichts als der reinste Übermut, diese Marion». sagte Rebekka und schüttelte verliebt den grauweißen Tituskopf[42].
Fabian folgte Marion durch das große Bibliothekszimmer, eine Art Saal, der nahezu das ganze Erdgeschoss einnahm. Er hatte auf drei Seiten bis zum Boden reichende Fenster, durch die eine Flut helles Licht aus dem Garten strömte. Die Wände waren bis oben mit Büchern angefüllt, eine breite bequeme Treppe, auf der soeben Marion verschwunden war, führte in die erste Etage empor. Sobald man diesen Raum betrat, fühlte man sich von der Ruhe und Feierlichkeit eines Museums umgeben, und Fabian überkam abermals sein alter Gedanke, wie wundervoll es sich hier denken ließ. Wiederum betrachtete er im Vorübergehen die vereinzelten Möbel, Schränke, Truhen. Sie waren alle gediegen und erlesen, ohne prächtig zu sein. Ihr Zauber, wie der des ganzen Hauses, bestand in ihrer Gediegenheit und Vollendung. In allen Dingen hatte Fahle Pracht und Prunk vermieden.
Die Terrasse war breit und geräumig. Zwischen den grünen Blattpflanzen, Myrten und Lorbeerbäumchen, stand ein Ruhebett, auf dem Sanitätsrat Fahle lag. Er wandte Fabian das blasse, magere Gesicht mit den dunklen, leicht fiebrigen Augen zu, als er eintrat.
XII
«Sie erlauben, dass ich liegenbleibe, lieber Freund». sagte Fahle mit dünner, kraftloser Stimme. «Ich kann Sie auch so willkommen heißen und Ihnen danken für Ihren Besuch bei einem Verfemten[43]». Er deutete mit seiner weißen, durchsichtigen Hand auf einen Korbsessel an seiner Seite.
Fabian begrüßte ihn mit herzlichen Worten.
Sanitätsrat Fahle nickte. «Sie sehen, die Erregungen der letzten Monate haben mich niedergeworfe», fuhr er fort. «Heute versuchte ich noch ein wenig, die letzten Sonnenstrahlen zu genießen».
Fahle hatte stets das asketische, magere Gesicht eines Menschen gehabt, der Zeit seines Lebens geistig arbeitete, heute aber erweckte er den Eindruck eines leidenden Greises. Sein kurzer Bart schien dünner geworden zu sein und erschien nun fast weiß. Der hohe Schädel war fast völlig kahl, und in seinem abgezehrten Kopf lebten nur noch die dunklen Augen mit den buschigen dunkelgrauen Brauen. An seiner Rechten trug er wie stets einen Handschuh, um die Verstümmelungen zu verbergen, die er vor einem Menschenalter bei Experimenten mit Röntgenstrahlen erlitt. «Ich liege hier und denke daran, wie schön das deutsche Land is», begann er von neuem und richtete die dunklen Augen voller Trauer auf den kleinen Park, wo eine exotische Buche mit rotem Laub stand, als sei sie soeben in Flammen aufgegangen. «Können Sie begreifen, wie schwer es ist, nicht mehr dabeizusein, ausgeschlossen zu sein aus einem Lande, in dem man aufwuchs und siebzig Jahre alt wurde? Können Sie das? Ich sehe vor mir das Gebäude des deutschen Geistes, unsichtbar für die meisten, kristallen und herrlich, vor dem die ganze Kulturwelt Achtung empfand. Ich bin stolz, dass auch ich mit meinen bescheidenen Kräften an diesem Gebäude mitarbeiten durfte! Ich sehe vor mir das Reich der Forscher und Wissenschaftler, das erhabene Reich der Musik, Dichtkunst und Philosophie. Es ist nicht leicht, all diese Reiche zu überblicken! Ein ganzes Leben lebte ich in diesen Reichen, und heute