In Camille Paglias Die Masken der Sexualität wirkt Byron wie ein seelischer Wellenreiter, dessen flotter, flüssiger Stil die Sehnsucht verkörpert, sich nie unterkriegen oder festsetzen zu lassen. Paglia sieht eine Verbindung zwischen diesem Byron’schen Hinwegstreifen und der amerikanischen »born to run«-Empfindung: »Autofahren ist für Amerika das Erhabene, zu dem es in Europa keine direkte Entsprechung gibt.« Es stimmt auf jeden Fall, dass Auto-Hymnen durch amerikanischen Rock ’n’ Roll geprägt wurden, durch Chuck Berrys »No Particular Place to Go« und die sonnengebräunten Oden der Beach Boys ans Surfen und Herumfahren. Und doch kann man sagen, dass diese Ästhetik erst in Europa durch den Motorik-Sound wirklich aufblühte – durch Bands wie Kraftwerk und Neu!, deren Musik den stets pulsierenden Rhythmus eines Fahrzeugs in Bewegung simulierte.
Seine Wurzeln hat dieser Sound wahrscheinlich in »L.A. Woman« von den Doors, seinem motorischen Rhythmus und seinen verschwommenen Bildern, die Los Angeles im Licht einer urbanen Wildnis zeichnen. Jim Morrison stellt sich die Stadt als einsame Frau vor, die Liebe seines Lebens, und ist von dieser Vision so verzückt, dass er eine Erektion bekommt (»Mr. Mojo risin’«). »Roadrunner« von Jonathan Richman and the Modern Lovers ist ein Proto-Punk-Tribut an die neonfarbene Schönheit der modernen Welt, ein Ständchen für die Autobahn, die als »my girlfriend« bezeichnet wird. Dann waren da noch Hawkwind, die den Biker-Posen von Steppenwolf auf Space-Rock(et)-Mantras wie »Silver Machine« und »Born to Go« eine kosmische Wendung gaben.
Die deutschen Bands Kraftwerk und Neu! führten diese ekstatische Überhöhung der Fortbewegung an ihr Extrem (passenderweise – schließlich ist die Autobahn eine deutsche Erfindung). Wie Lester Bangs anmerkt, wurde Speed, d. h. Methylamphetamin, von Deutschen erfunden, also dasjenige »Werkzeug«, das »menschliche Wesen der Maschinenhaftigkeit am nächsten brachte«. Kraftwerks »Autobahn« (1974), das den beständigen Beat von »L.A. Woman« und »Roadrunner« sogar noch weiter zu einer perfekten, monotonen Gleichmäßigkeit abflachte, war eine Hymne auf die Ruhe und Lässigkeit des Autofahrens – einem anmutigen Zustand, in der Welt zu Hause, stets zwischen einem Zuhause und dem anderen, nie ortsgebunden. Kraftwerk mochten The Velvet Underground und The Stooges (die beide Trance-Rock-Mantras gespielt und Unmengen an Speed konsumiert hatten), aber ihr größter Einfluss aus dem Bereich der Rockmusik waren The Beach Boys, die vielmehr für die apollinische Seite des Rock standen (anstelle der dionysischen): heiter, die Sonne anbetend, klassische Strukturen, besinnlich.
In der Kunst steht die apollinische Tendenz für klare Formen und Eleganz und grenzt sich von der Dunkelheit und Unreinlichkeit der dionysischen ab, von der animalischen Seite der Menschheit. Von Kraftwerks Krautrock-Kollegen Anfang der 1970er waren es Neu!, die die apollinische Tendenz am weitesten trieben. Ihre Musik war pure Motorik: gleichmäßige, unsynkopierte Beats wie aus einem Uhrwerk, keine Spur von Unberechenbarkeit oder Ungeschliffenheit und ein irisierender, transzendentaler Gitarren-Sound. Diese hauptsächlich instrumentale Rockmusik beschwor ein Gefühl reibungsloser Fortbewegung in ein Reich immer weiter zunehmender Verwunderung. Schon der Bandname hat etwas von Wiedergeburt. Die Musik von Neu! ist schnell, luftig und leuchtet, als sei sie von der Sonne gesegnet worden. So ließen sie das schattenhafte Dunkel der »dunklen Seite« der Psyche hinter sich und flogen, wie Ikarus, der Sonne entgegen. Obwohl ihre meisten Songs Bewegung oder Aufstieg evozierten, suchte »Leb’ wohl« (von Neu! ’75) sein Bild des erfüllten Glücks im Ozean: Der nach Luft schnappende Gesang steckt voller Ehrfurcht, nonchalantes Pfeifen gesellt sich zu ineinander zusammenfallenden Wellen und dieses einzige Mal vermittelt die Musik einen Sinn des Zur-Ruhe-Kommens anstelle von Antrieb. Nach dieser Meeresidylle legt das Album mit dem ausgeschmückten Nebel von »Hero« wieder einen Zahn zu. Der zum Ruhm verpflichtete Protagonist des Stückes rast Kopf voraus in das Nichts. Immobilität und Geschwindigkeit sind die beiden Extreme der Suche nach dem Nirwana.
DIE NEUEN SPEED-FREAKS
Anfang der 1990er hatte Speed ein Comeback, als britische Jugendliche einen Weg aus der zunehmend bedrückenderen Realität suchten. Diese Subkultur hieß ’ardkore oder Hardcore-Techno (brutale, motorische Tanzmusik mit entfernter Verwandtschaft zu Kraftwerk). Die beliebteste Droge der Ravekultur, Ecstasy, wurde mehr und mehr mit Amphetamin verunreinigt oder von falschen Ecstasy-Tabletten aus Speed und LSD verdrängt; die Geschwindigkeit der Musik nahm zu. House hatte in etwa 120 bpm, ’ardkore erreichte ein Tempo von 140, 150, 160 bpm und darüber hinaus. Diese Entwicklung ging mit der Entstehung einer neuen Subkultur von Speed-Freaks einher, die die Euphorie des Ravens mit der ungebremsten Wut des Punk kombinierte.
Amphetamin fördert unsexuelle Konzentration und den Fokus auf sich selbst. Bei Überdosierung kann es zu einer vorübergehenden Psychose kommen. Vom hoch entflammbaren Narzissmus von Mod und Northern Soul zu Prunk und Paranoia von Punk (im Sex-Pistols-Song »Seventeen« sang Johnny Rotten davon, dass Speed alles sei, was er brauche, und ihn geistesabwesend selbstgenügsam mache) hatte von Amphetamin beeinflusste Rockmusik eine solipsistische, größenwahnsinnige Aura. The Jesus and Mary Chain fingen in »The Living End« das psychopathische Element der Droge ein: »There’s nothing else but me«, erklärt der selbstverliebte Motorradfahrer. Lester Grinspoon und Peter Hedblom schreiben in ihrem Buch über Amphetamin-Missbrauch, The Speed Culture, über einen Speed-Freak, der seine Sucht als »Liebesaffäre« bezeichnete und von sich selbst im Plural sprach. In einem späteren Kapitel werden wir dieses »königliche Wir« mit dem »königlichen Nirwana« (Paul Virilio) verknüpfen, das Drogen wie Heroin und Speed versprechen. Der Hinweis möge genügen, dass, wenn Robin Morgan recht hat und Abkopplung wirklich »der Geist des Patriarchats« ist, Speed die ultimative patriarchale Droge ist.
Die rasende Intensität, die Hardcore-Techno manchmal erreicht, ist purer Punk. Der Cyber-Wagner-Bombast des Tracks »The Dominator« von Human Resource mündet in einen psychotischen Rap, der seinen Höhepunkt mit den Zeilen »There is no other / I wanna kiss myself« erreicht. Im ’ardkore bietet der Rausch eine Art autistische Glückseligkeit. Die Musik wogt blind, ihre Beschleunigung ins Nichts wird von den MCs durch das Skandieren intransitiver Schlagworte eingefangen (»let’s go«, »’ere we go«, »rush!«, »buzzing«, »’ardkore’s firing«). Wie in einer Achterbahn gleicht die Musik einem Persönlichkeitstest durch eine ultraintensive Erfahrung. Das Individuum wird durch Panik (in ihrer ursprünglichen griechischen Bedeutung, einem Transport von Ekstase über die Furcht hinaus) an den Rand eines Blackouts getrieben.
Paul Virilio, der große Speed-Theoretiker, erklärt, Geschwindigkeit, »schnelles Reisen, beschleunigter Transport von Personen Zeichen und Dingen […] entreißen das Subjekt immer wieder seinem zeit-räumlichen Kontext.«. Man ist fort, völlig weggetreten. Es lässt sich eine Linie vom Beat-Roman Go von John Clellon Holmes über Marlon Brandos Biker in Der Wilde (der erklärt: »Wir gehen nirgendwo hin. Wir gehen einfach.«) bis zum Dancefloor-Hit »Go« des Techno-Senkrechtstarters Moby ziehen. Von der Beatnik-Odyssee zum ballistischen Kick der bpm-Kultur: Das Ziel ist das Nirwana.
Innerhalb der Ravekultur wurde das Aufkommen von ’ardkore als Entwicklung hin zu einer maskulineren Ästhetik wahrgenommen (härter, schneller, brutaler, weniger Melodien). Manche hielten ’ardkore für eine Rückentwicklung weg von der vielseitigen Sinnlichkeit früherer Ravemusik, mit einer Invasion der Szene durch Horden rauflustiger Spinner aus der Arbeiterklasse. Wenn von ’ardkore als »neuem Heavy Metal« die Rede war, war das kein Kompliment. Doch die Erhabenheit von purer Geschwindigkeit entspricht einer Auflösung des Egos genauso sehr, wie sie eine hypermaskuline Behauptung des Selbst ist. Das Verlangen nach Ekstase und das nach Vereinigung finden in einem Gefühl zusammen, das einem tobenden Ozean gleicht. In der chaotischen Strömung des ’ardkore wirst du androgyn.
In den 1960ern benutzte man das Wort »Raver«, um hysterische/nymphomane Groupies im Teenager-Alter zu beschreiben. Ravemusik führt dem männlichen Körper eine hysterische Wahrnehmung zu. In der Ravekultur geht es ganz und gar um Klitorisneid. Provozierte der multiorgastische Disco-Sound von Donna Summers »Love to Love You Baby« noch männliche Lust, so beschwören die beschleunigten, euphorischen weiblichen Vocals des Techno eine hyperreale Verzückung, mit der sich (männliche) Raver identifizieren und der sie nacheifern. Damit schauen sie sich