»Ein Straßengrabenmonster!«, rief Dad und trat unnötigerweise auf die Bremse. Der Wagen drehte sich leicht ein, dann standen wir. Vom Geräusch irritiert blieb das Tier stehen und wandte sich zu uns um. Majestätisch nickte er kurz mit dem Kopf, dann trat er an und verschwand genauso schnell, wie er aus dem Wald hervorgebrochen war. Einige Sekunden starrten wir dem Tier nach. »Das ging aber gerade so gut«, meinte Dad, ich zog sein Kinn mit dem Zeigefinger Richtung Straße und deutete mit dem anderen gleichzeitig dorthin: »Aber das geht gleich nicht gut!« Jetzt bemerkte auch Dad, was ich schon längst gesehen hatte: Ein Holzlaster kam den Weg herab, die Vorderräder der Zugmaschine standen schon schräg und in ein paar Sekunden würden wir an seinem Kühler enden! Dad wuchtete der Rückwärtsgang rein und gab Fersengeld, der riesige Truck hupte und kam wenig später zum Stehen. Direkt vor uns. Trotz der niedrigen Geschwindigkeit standen Dad Schweißperlen auf der Stirn, standen da doch schließlich knapp 60 Tonnen vor uns!
Schnaufend.
Zischend.
Und fluchend!
Dad schaltete die Warnlichter ein und stieg aus, ich prüfte erstmal, ob mein Kleid nicht unbemerkt einen feuchten Fleck aufwies, bevor ich ihm folgte. »Sag mal bist Du nicht ganz dicht, Butler!?«, grölte es uns aus dem Fahrerhaus entgegen, Dad hob beschwichtigend die Arme: »Tut mir leid, Mann! Da war dieser Elch und …« »Ist das jetzt deine neue Ausrede für alles? Es war ein Elch? Brauchst wohl wieder einen neuen Wagen, was?«, lachte der Fahrer aus dem Fenster, dann bemerkte er mich: »Oh Verzeihung, kleine Miss! Ich wusste nicht, dass du auch hier bist! Sekunde, bin gleich bei euch.« Das Fenster fuhr hoch, es knarzte und quietschte und dann ging die Tür auf: »Ach dieses verdammte Ding will wieder nicht! Bitte sieh es mir nach, wenn ich nicht runterkomme, ja? Schön dich zu sehen, Cat!« Der Fahrer hielt mir seine Hand entgegen, ich streckte mich ein wenig nach oben: »Hey Tommy! Schön dich zu sehen! Immer noch nichts anderes gefunden?« Ich kannte den Fahrer. Gut sogar. Es war Thomas Mason, schon ewig im Geschäft. »Was soll man hier draußen schon groß anderes finden, kleine Miss? Man klaut Holz aus dem Wald, veralbert Touristen oder fängt böse Buben«, grinste er, ich mochte seine direkte Art: »Ja, wie wahr! Gut, dass du dich dazu entschieden hast, die Touristen zu veralbern.« »Ja, was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig! Holz klauen geht nicht mehr, seit dein Vater hier das Sagen hat!« Wir mussten alle lachen, da setzte sich plötzlich Tommys Sitz in Bewegung! »Wow! Sachte, du blödes Ding! Rein! Wieder rein!«, rief Tommy und drosch auf der Konsole am Sitz herum. Der stoppte, wippte ein wenig mit ihm darauf und fuhr wieder hinein: »Irgendwann hole ich die alte Leiter wieder aus dem Schuppen und dann hast du ausgedient. Blödes Teil!«
Ich konnte ihn verstehen, als kleiner Mensch hatte er schon genug Sorgen. Der Sitz mit der Hydraulik daran sollte seinen Job erleichtern, doch das raue Klima und der gnadenlose Wald hinterließen ihre Spuren. Und so entwickelte der Sitz eben manchmal ein Eigenleben, sehr zum Missfallen von Tommy. Der dann schlimmere Flüche kannte, als mancher seiner großen Kollegen! Was ihm Respekt einbrachte, zumindest bei den meisten. Es gab natürlich auch Arschlöcher, die ihm Streiche spielten, doch denen zahlte es Tommy immer heim. Doppelt! Mir gefiel besonders seine Höflichkeit und sein Humor, ständig nannte er mich »kleine Miss«. Dabei ging er mir gerade bis kurz über die Hüfte! Dennoch war er für mich ein großer Mann, denn sich so durchs Leben kämpfen zu müssen, das übersteht nicht jeder. Wir verabschiedeten uns, stiegen wieder ein und setzten zurück, damit er vorbeikonnte. Hupend setzte er sich in Bewegung und verschwand, wir setzten unseren Weg nach Hause fort.
Nur eine gute Viertelstunde später kamen wir an, Dad wendete gekonnt und parkte. Ich stieg aus und sog die kalte Waldluft tief in mich ein! So lohnte es sich zu leben: Bäume soweit das Auge reichte, ein Platz zum Ausruhen und eine Aufgabe die …
Ach, ja. Das fehlte mir noch, diese Aufgabe. Aber was solls, war ja nur noch ein halbes Jahr Highschool und dann ging es endlich an die Uni! Ja, ich weiß: wie kann man nur so versessen aufs Lernen sein!? Bin ich gar nicht. Aber ich will im Wald arbeiten wie mein Dad und als Förster muss man schon wissen, was man da tut, oder? Siehst Du, denke ich auch. Ich hatte schon ein paar Mal versucht, mich als Freiwillige rekrutieren zu lassen, doch vom Ministerium wurde ich immer abgelehnt. Der wenigen Jahre wegen. Mein letzter Antrag war zwar noch nicht durch, aber ich konnte mir denken, wie er beschieden würde: zu jung.
Doch jetzt stand Weihnachten vor der Tür, die schönste Zeit im Jahr! Also holte ich meinen Koffer aus dem Wagen und Dad nahm ihn mir gleich wieder ab. So ist er eben, Gentleman durch und durch. Ich lächelte ihn dankbar an, auch wenn ich durchaus in der Lage war, meinen Koffer selber zu tragen. Er bot mir noch seinen Arm an, ich hakte mich ein und so gingen wir ins Haus. Na ja, fast. Vor der Tür blieb Dad stehen, stellte den Koffer ab und kramte in seiner Hosentasche herum: »Wo zum Teufel … ah, hier.« Das erste Mal, dass Dad einen Schlüssel aus der Tasche holte! Bei uns war nie abgeschlossen gewesen, geschweige denn, überhaupt ein Schloss an der Tür. Ich sah ihn verwundert an, während er drehte, er erklärte: »Habs letzte Woche rein gemacht, rein machen müssen. Wusstest du, wie schlau Bären sind?«
Er ließ mich ein, ich lauschte weiter gespannt: »War kurz nachdem du weg warst. Da hats angeklopft und ich wollte nachsehen, wer das wohl wäre. Ich kam gerade die letzten Stufen runter, als die Tür schon aufging und Meister Petz rein wollte! Kannst dir mein Gesicht vorstellen. Also bin ich zum Aces und hab das Schloss gekauft.« Während er mir das alles erzählte, waren wir die Treppe schon hochgegangen und Dad stellte den Koffer in meinem Zimmer ab: »So, ich denke, den Rest schaffst du allein. Ich kümmere mich mal ums Abendessen.« Ihn nochmal umarmend bedankte ich mich fürs Koffertragen, dann ging Dad und ich packte aus. Die dreckige Wäsche kam gleich in die Box, Taschen und Koffer wieder unter mein Bett und dann ging ich aufs Klo. Hier im Haus war alles noch so, wie zu dem Zeitpunkt, als ich weg ging, nur meine Schminkschachtel stellte ich wieder an ihren Platz. Sie klappte unnötigerweise auf, gerade so konnte ich sie noch festhalten. Ein Eyeliner war wohl dennoch herausgefallen, ich legte ihn zurück und hüpfte dann die Treppe hinunter.
Kaum den halben Weg hatte ich geschafft, da tönte mir aus der Küche entgegen: »Irgendwann macht es mal ›Ra-Krach!‹ und du bist durch die Stufen durch!« »Geht ja gar nicht«, erwiderte ich unten angekommen, »ich hab die 190 Pfund noch nicht überschritten, ganz im Gegensatz zu dir!« »Na und? Solange ich die 300 nicht knacke, ist alles gut«, protestierte Dad am Herd, ich klopfte neben ihm lehnend an sein kleines Bäuchlein: »Und? Welche Gürtelgröße braucht der Herr?« »42, schon seit Jahren!«, echauffierte sich Dad, ich wackelte nochmal an seiner Wampe: »Klar, du Gazelle! Aber nur, weil sich das Ding mit der Zeit ausgeleiert hat.« »Gib mir bitte mal das Salz. Danke. Und ja: ich bin eine Gazelle.« Ich hatte inzwischen schon die Teller aus dem Schrank geholt und stellte sie auf den Tisch: »Klar, aber eine fette Gazelle! Was brutzelst du da eigentlich?« »Stück vom Hirsch, aus der Truhe. Sandra hat ihn totgemacht.« »Uuh, Sandra!«, machte ich affig, Dad warf mit dem Topfhandschuh nach mir: »Ach hör auf! Sie ist nett.« »Oh ja, nett«, machte ich ihn nach, als ich das Besteck aus der Schublade holte, prompt kam der zweite Handschuh geflogen: »Mach dich nicht lustig, sie ist nett.« »Ja, ich weiß. Und? Wann gehst du endlich mit ihr aus?« Er stellte die Pfanne auf den Tisch und setzte sich: »Wenn es nach dir ginge, noch heute Abend, nicht?« »Klar! Aber jetzt müsstest du dir schon ordentlich was einfallen lassen, wir essen schließlich schon«, meinte ich und öffnete den schon von Dad platzierten Kartoffelsalat: »Wieviel?« »Hälfte?« »Vielfraß«,