»Großer Gott – du bist es –,« keuchte John Ferrier; »weshalb kommst du so geschlichen? Du hast mich furchtbar erschreckt.«
»Gieb mir zu essen,« rief jener mit heiserer Stimme, »seit achtundvierzig Stunden habe ich weder Trank noch Speise zu mir genommen.« Er griff gierig nach Brot und Fleisch, das noch von Ferriers Abendmahlzeit auf dem Tische stand. »Hält sich Lucy tapfer?« war seine erste Frage, sobald er seinen Heißhunger gestillt hatte.
»Ja, doch kennt sie die Größe der Gefahr nicht.«
»Das ist gut. Das Haus wird von allen Seiten bewacht; ich konnte mich nur kriechend nähern, um nicht bemerkt zu werden. Sie passen scharf auf, doch sind sie nicht schlau genug, um einen Washoe-Jäger zu fangen.«
John Ferrier war wie umgewandelt, nun er auf den Beistand eines getreuen Verbündeten zählen durfte. »Du bist ein Mann unter Tausenden,« rief er, Jeffersons Hand herzlich schüttelnd; »nicht jeder wäre gekommen, um Gefahr und Not mit uns zu teilen.«
»Wärst du allein in der Bedrängnis, Vater, wahrlich – ich hätte es mir wohl zweimal überlegt, bevor ich mich in dieses Wespennest wagte,« erwiderte der junge Hope freimütig. »Um Lucys willen bin ich hier und ehe ich zugebe, daß ihr ein Leid geschieht, müssen sie mir das Leben nehmen.«
»Was soll denn aber nun werden? Laß uns rasch handeln!«
»Morgen ist euer letzter Tag; wenn wir nicht diese Nacht entfliehen, seid ihr verloren. In der Adlerschlucht stehen zwei Pferde und ein Maultier bereit. Wieviel Geld hast du?«
»Zweitausend Dollars in Gold und fünftausend in Banknoten.«
»Das genügt; ich kann etwa die gleiche Summe hinzulegen. Wir müssen übers Gebirge nach Carson City. Lucy soll sich sogleich fertig machen. Gut, daß die Dienstboten nicht im Hause schlafen.«
Während Ferrier ging, seine Tochter zu wecken, traf Jefferson Hope die nötigen Vorkehrungen zur Flucht. Was sich von Eßwaren vorfand, packte er in ein kleines Bündel und füllte einen Steinkrug mit Wasser, da er wußte, daß sie in den Bergen nur auf wenige Quellen stoßen würden. Jetzt kehrte auch Ferrier mit Lucy zurück; beide waren zum Aufbruch bereit. Die Liebenden begrüßten einander mit wenigen herzlichen Worten, jeder Augenblick war kostbar und es gab noch viel zu überlegen.
»Wir müssen auf der Stelle fort,« sagte Jefferson mit leiser, aber fester Stimme. »Es gilt der Gefahr mutig zu trotzen. Beide Eingänge, der vordere sowohl, als der hintere, werden bewacht, aber bei gehöriger Vorsicht können wir durch das Seitenfenster entfliehen, das auf die Felder geht. Haben wir erst die Straße erreicht, so sind wir nur eine kurze halbe Stunde von der Schlucht entfernt, wo die Pferde warten. Bei Tagesanbruch müssen wir schon tief im Gebirge sein.«
»Aber, wenn wir angehalten werden?« fragte Ferrier.
Hope deutete auf die Mündung des Revolvers, den er in seinem Wamse trug. »Wenn ihrer zu viele sind, müssen zwei oder drei ins Gras beißen,« sagte er mit grimmigem Lächeln.
Alles Licht im Hause war ausgelöscht und Ferrier warf durch das dunkle Fenster noch einen Blick auf seine Wiesen und Felder hinaus, welche er für immer verlassen sollte. Schon längst war er jedoch auf dies Opfer vorbereitet und der Gedanke an seiner Tochter Glück und Ehre verscheuchte allen Kummer über den Verlust seines Eigentums. Die Gegend lag so still und friedlich da, die Bäume rauschten und das Korn wogte im Winde; es war schwer zu glauben, daß da draußen allerwärts der Mord auf sie lauere. Die bleiche, entschlossene Miene des jungen Jägers verriet aber nur allzu deutlich, daß er auf dem Wege nach dem Hause genug gesehen hatte, um darüber keinerlei Zweifel zu hegen.
Ferrier trug einen Sack mit dem Gold und den Banknoten, Jefferson die Vorräte an Eßwaren und den Wasserkrug; Lucy hatte ihre liebsten Besitztümer in ein Bündel geschnürt. Langsam und vorsichtig öffneten sie das Fenster und warteten, bis eine dunkle Wolke, die herangezogen kam, die Gegend in Finsternis hüllte, dann kletterten sie geräuschlos in den Vorgarten hinab. Mit verhaltenem Atem, halb schleichend, halb kriechend, erreichten sie glücklich den Heckenzaun, in dessen Schutze sie vorwärts eilten, bis sie an eine Lücke kamen, durch welche man in die Felder hinaus gelangte. Sie befanden sich gerade an dieser Stelle, als Jefferson sich plötzlich zu Boden warf, und Vater und Tochter mit sich zog. Das geübte Ohr des Steppenjägers hatte ein Geräusch vernommen. Kaum kauerten sie in ihrem Versteck, als wenige Schritte von ihnen der trübselige Ruf einer Bergeule ertönte, dem ein anderer Eulenruf aus einiger Entfernung antwortete. Gleich darauf sahen sie den Schatten eines Mannes an der Zaunlücke vorbeigleiten und eine zweite Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf.
»Morgen um Mitternacht, wenn das Käuzchen dreimal ruft,« sagte der erste im Ton des Befehls.
»Wohl,« versetzte der zweite; »soll ich Bruder Trebber benachrichtigen?«
»Sage ihm die Weisung, er soll sie weiter geben. Neun und sieben.«
»Sieben und fünf!« entgegnete der andere, und die beiden entfernten sich nach verschiedenen Richtungen. Ihre letzten Worte sollten offenbar eine Art Losung sein. Kaum waren ihre Tritte verhallt, als Jefferson aufsprang und mit seinen Gefährten, so rasch sie ihre Füße trugen, quer durch die Felder lief.
»Vorwärts, vorwärts,« keuchte er von Zeit zu Zeit; »wir sind schon an den Wachtposten vorbei, nur die größte Eile kann uns retten.«
Wenn Lucys Kräfte zu versagen drohten, half er ihr und stützte sie mit starkem Arm. Auf der Landstraße angelangt, kamen sie rasch weiter, und kurz vor der Stadt bog ihr Führer in einen schmalen, steilen Pfad ab, der zu den Bergen aufstieg. Zwei dunkle, zerklüftete Felsspitzen ragten vor ihnen empor in der Finsternis; zwischen diesen öffnete sich die Adlerschlucht, wo die Pferde warteten. Von sicherm Instinkt geleitet, fand Jefferson den Weg zwischen Felsblöcken und in dem trockenen Bett eines Waldbachs, bis sie den versteckten Schlupfwinkel erreichten, wo er die treuen Tiere festgebunden hatte. Das Mädchen bestieg das Maultier und Ferrier mit dem Geldsack eines der Pferde, während Jefferson Hope das andere auf dem gefährlichen Pfade am Zügel führte.
Rechter Hand ragte eine wohl tausend Fuß hohe Felswand und zur Linken lagen Steinblöcke und Trümmer wild durcheinander geworfen. Der Fußsteg, der in regelmäßigem Zickzack mitten durch diese Wildnis führt, war an manchen Stellen so schmal, daß sie ihn hintereinander einzeln verfolgen mußten, und so rauh, daß nur die geübtesten Reiter ihn ohne Unfall passieren konnten.
Trotz aller Mühsal und Beschwerde war den Flüchtlingen dennoch fröhlich zu Mut, weil jeder Schritt, den sie vorwärts thaten, sie weiter aus dem Bereich des Tyrannen brachte, dem sie entrinnen wollten.
Bald jedoch erhielten sie den Beweis, daß sie noch immer nicht dem Bann der ›Heiligen‹ entflohen waren. Sie hatten eben die ödeste und wildeste Stelle des Gebirgspasses erreicht, als Lucy mit einem Ausruf des Schreckens nach oben deutete. Auf einem Felsvorsprung, der den Pfad beherrschte und sich klar gegen den Himmel abhob, stand ein einsamer Wachtposten. Er hatte die Reiter gleichfalls bemerkt und seine Frage: »Wer geht da?« klang herausfordernd durch die stille Schlucht.
»Reisende nach Nevada,« rief Jefferson Hope, die Hand an der Flinte, welche am Sattel hing.
»Mit wessen Erlaubnis?« schallte es von oben herunter.
»Der heiligen Vier,« gab Jefferson zur Antwort. Er wußte von seinem Aufenthalt bei den Mormonen, daß dies die höchste Obergewalt sei.
»Neun und sieben!« rief die Schildwache.
»Sieben und fünf!« entgegnete Jefferson rasch, sich der Losung erinnernd, die er im Garten gehört hatte.
»Passiert – der Herr sei mit euch!« ertönte es von der Felsspitze.
Bald darauf war der Weg breiter und die Pferde konnten sich in Trab setzen. Noch einmal sahen sie zurück nach dem einsamen Wächter, der sein Gewehr im Arm, an dem Felsen lehnte. Sie wußten, daß sie den letzten Posten der Mormonen hinter sich hatten und die Freiheit vor ihnen lag.
12.