»Ich bitte … Verhandlung … unterbrechen«, flüsterte St. Vincent.
»Darum bitte ich auch, Herr Vorsitzender«, schloss Frona sich an. »Vertagen Sie das Verhör, bis für den Mann draußen gesorgt ist.«
»Weiter verhandeln! Keine Unterbrechung!« kam es aus dem Auditorium.
Frona verbeugte sich vor dem Richtertisch und nahm auf dem Stuhl neben Gregory Platz.
»Was geht hier vor? Was will man von dir?«
Er nahm ihre Hand und presste sie mit schweißnassen Fingern.
»Glaub’ ihnen nicht, Frona. Sie wollen … sie wollen mich …«, er würgte, als säße die Faust des Todes schon an seiner Kehle, »sie wollen mich umbringen.«
Frona zog ihren Stuhl ganz nahe an den seinen heran und legte beide Hände auf seinen schlotternden Arm.
»Du musst ganz ruhig sein, Vincent. Ganz ruhig. Es gibt solche Stunden, in denen darf ein Mann seine Nerven nicht verlieren, und dann ist auf einmal alles ganz anders, und alle Gefahr ist vorbei. Du kannst nichts Böses getan haben. Nichts, was gegen die anderen ist. Denn das sind ja alles unsere Kameraden, und du bist ein guter Kamerad. Und jetzt bin ich bei dir, und ich gehe mit dir durch Himmel und Hölle. Und jetzt erzählst du mir alles.«
Er hatte sich, während sie zu ihm sprach, die Hand über die Augen gedeckt. Zwischen seinen Fingern rollten dicke Tränen herunter.
»Gestern Abend«, begann er. Aber dann unterbrach er sich und horchte in verzweifelter Spannung auf die Aussage des Skandinaviers, der vor einem Augenblick seinen Eid abgelegt hatte und jetzt langsam auszusagen begann.
»Ich liege in meiner Hütte«, erzählte der Mann. »Ich schlafe und träume was, und auf einmal wache ich auf und weiß nicht, wovon, und dann bin ich gleich ganz wach. Das ist so bei mir, ich schlafe ganz fest, aber dann bin ich mit einemmal bei allem dabei, sozusagen mit einem Sprung. Da ist doch was los, sage ich mir, und raus aus der Koje und an die Tür. Und richtig, da höre ich doch einen Schuss.«
Ein Mann mit rotem Gesicht unterbrach ihn.
»Wer glauben Sie, hat da geschossen?«
»Was wollen Sie wissen?« fragte der Zeuge verständnislos. »Wer da geschossen hat, wollen Sie wissen?«
Der Richter nahm das Wort: »Was war Ihr erster Gedanke, als Sie in die Tür traten?«
»Ja, das war so mit meinem ersten Gedanken«, seufzte der Mann. »Ich hab’ doch nämlich keine Mokassins. Und wie ich so in Strümpfen hinaustrete, gerade aus der warmen Koje hinaus in die kalte Luft, da war mein erster Gedanke natürlich: Pfui Teufel, das ist ja eine Hundekälte!«
Dann wurde sein gespanntes Gesicht plötzlich sehr zufrieden, die reinste Sonne lag über seinem Mund, als er fortfuhr: »Na, jetzt hab’ ich aber wieder Mokassins, und nun ist das ja alles nicht mehr so schlimm.«
Ein großes Gelächter beendete seine Erklärung, aber er ließ sich nicht stören, sondern fuhr gelassen in seiner Aussage fort.
»Dann höre ich noch einen Schuss, und da bin ich ja dann gelaufen, immer den Weg hinunter, da, wo der Schuss hergekommen ist.«
In diesem Augenblick drängte Corliss sich durch die Menge bis zu Frona durch, und sie hörte nicht, was der Schwede weiter aussagte.
»Was gibt es?« fragte Corliss hastig. »Kann ich Ihnen helfen? Ich bin nur dazu auf der Welt, um Ihnen zu helfen, wenn Sie in Not sind!«
Sie ergriff seine Hand und drückte sie dankbar.
»Sofort, Corliss! Sofort, machen Sie sich auf den Weg, irgendwie müssen Sie über den Kanal kommen und zu meinem Vater! Versäumen Sie keine Minute! Bringen Sie ihn her! Sagen Sie ihm, man hat Gregory St. Vincent angeklagt, wegen …«
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie noch immer nicht wusste, um was es ging.
»Weswegen bist du hier, Gregory? Weswegen bist du angeklagt?«
Ganz langsam kam zwischen seinen todblassen Lippen das entsetzliche Wort heraus, so langsam, als bedeutete es schon Verurteilung, wenn er es aussprach: »Mord.«
»Mord? …« fragte Corliss.
»Sagen Sie meinem Vater, dass er wegen Mordes angeklagt ist. Aber es muss alles ein Irrtum sein, und ich bin hier und ich verteidige ihn. Aber ich weiß ja nicht, was es hier für Gesetze gibt, bei so einem Goldgräber-Gerichtshof, und ich bin ja auch so schwach gegen all diese Männer. Sie wollen gerecht sein, das weiß ich, aber mein Vater muss dabei sein, seine Klugheit, seine Ruhe, damit wirklich Recht gesprochen wird. Und sagen Sie ihm«, dabei fiel ihr Blick wieder auf die zerfetzte Hose, in der sie vor diesem hohen Gerichtshof erschienen war, »er soll mir etwas zum Anziehen mitbringen. Und seien Sie nicht zu tapfer, wenn Sie über den Kanal setzen! Es ist furchtbar wichtig, Vance, aber Sie müssen Ihr Leben schonen, Sie dürfen nicht leichtsinnig sein. Aber versuchen müssen Sie es. Es wäre schrecklich, wenn mein Vater nicht käme.«
»Verlassen Sie sich auf mich.«
Corliss warf zuversichtlich den Kopf zurück und drängte sich durch die Menge.
»Wer ist dein Verteidiger?« fragte Frona.
Er schüttelte den Kopf.
»Du hast keinen?«
»Sie wollten mir einen geben. Einen früheren Rechtsanwalt aus den Staaten, Bill Brown heißt er, aber den habe ich abgelehnt. Ich weiß zu viel von ihm. Und vielleicht weiß er auch viel von mir, was ihn nichts angeht. Jetzt macht er den Staatsanwalt. Ich hätte ihn doch nicht ablehnen sollen. Es ist ein Lynchgericht, weißt du, und sie sind alle parteiisch. Auf mich haben sie es abgesehen, ich bin verloren.«
»Wenn ich nur Zeit hätte, wenn du mir nur einmal alles erzählen könntest.«
»Frona, ich bin doch unschuldig, ich habe doch nichts getan, ich hab’ doch kein Blut vergossen.«
»Nimm dich zusammen! Ich beschwöre dich! Nimm dich zusammen!«
Sie legte die Hand wieder auf seinen Arm und presste die Hand in seine Finger.
»Gregory, du hast verloren bei all diesen Männern, wenn du kein Mann bist. Du weißt ja gar nicht, wie sie das hassen, wenn ein Mann in der Gefahr weint. Sie glauben ja alle, das sei schlechtes Gewissen. Oder sie glauben noch viel Schlimmeres – um Gottes willen, Vincent, wein’ doch nicht, sie glauben ja dann, dass du ein Feigling bist. Diese Leute wissen ja nichts von Nerven! Sie wissen ja nicht, dass du nur weinst, weil du empfindlichere Nerven hast als sie.«
Inzwischen war der Zeuge in seiner Aussage schon sehr weit gekommen.