»Sie abbe rekt!« Tiefe Andacht vor diesem ungeheuren Schauspiel lag in der Stimme des Barons.
Die ganze Fläche des ungeheuren Stromes bog und bäumte sich jetzt, als seien riesige Minen auf seinem Grunde zur Entladung gekommen. Es war wie ein Kampf zwischen den Eisbergen und Eisklötzen, ein Kampf, in dem jedes Partikel Natur gegen das andere wütete, und jedes organische Wesen, das in dieses Gewühl geriet, musste verloren sein.
Je höher der Tag stieg, umso majestätischer wurde das Bild. Frona war hingerissen:
»Ich hätte nie geahnt, dass es auf Erden so etwas Herrliches gibt!«
St. Vincent war noch immer nicht eingetroffen.
»Jetzt fällt der Fluss!« verkündete Welse eine gute Stunde später. Die Eisschicht war gefallen, sie lag jetzt zwei Meter tief unter dem Hang, und Baron Courbertin zeichnete die Stelle mit seinem Stock an. Nun war es auch hell genug, um wieder mit dem Feldstecher das ferne Dickicht abzusuchen. Dort lag der Verwundete, der sicher verloren war, wenn nicht heute noch Rettung kam.
»Er liegt noch da, aber er bewegt sich nicht mehr.«
Zwei Stunden später war unter der Gewalt eines Sonnenlichtes, wie diese Breiten es nur selten kannten, das Eis in Massen geschmolzen, und nun lag die Oberfläche des Flusses schon sechs Meter tiefer als beim Erwachen. Aber aus dem Stuart stießen sich immer noch Eisbarren vor, drängten in die Kanäle zwischen dem Split-up-Island und fuhren mit Krachen ineinander. Del Bishop erschien zum zweiten Mal an diesem Tage, in fliegender Eile und schweißüberströmt, aber immer noch die gute Laune selbst. Er hörte, wie Frona und Courbertin sich auf französisch von Dingen unterhielten, die weitab von diesem Schauplatz lagen, vom Theater in Paris, dem letzten Roman von Anatole France.
»Würden die hochgebildeten Herrschaften nicht in dieses romantische Tal zurückkehren?« fragte er. »Kommen Sie mit mir! Es liegen ein paar Schwerkranke in der Hütte dort unten.«
Im Laufschritt verschwand er zwischen den Bäumen, und alle folgten ihm, so rasch sie konnten. Im Rennen stießen sie auf drei typische »Chechaquos«, die in einem Talkessel überwintert hatten. Ihr Lagerplatz war überschwemmt, hilflos standen sie vor ihrem Zelt, um ein Boot herum, das sie noch nicht flott kriegen konnten. Der Eisstoß war jetzt kaum fünf Meter von ihnen entfernt, er konnte plötzlich über die Insel hereinbrechen und alles zerstampfen.
»Schert euch hier weg, ihr Dummköpfe!« brüllte Jacob Welse und rannte weiter. Auch Del Bishop rief ihnen zu: »Ein bisschen dalli!«
Sie verstanden ihn nicht. Sie hörten kaum. Einer sah sie mit ganz verständnislosen, verschreckten Augen an. Ein anderer lag unbeweglich bäuchlings quer über dem Steuersitz des Bootes, seine Kräfte schienen völlig erschöpft. Ein dritter, der wie ein Büroschreiber aussah, schwankte hin und her und jammerte eintönig: »Mein Gott! Mein Gott!«
Der Baron blieb eine Sekunde stehen, um ihn zu schütteln. Frona rief: »Lassen Sie Gott aus dem Spiel, und nehmen Sie sich auf Ihre Beine! Weg vom Ufer! Lauft in den Wald, zwischen die Bäume! Irgendwohin, nur weg!«
Man versuchte, ihn mitzuziehen, aber der Mann schlug um sich und wollte nicht folgen. Sie eilten weiter und kamen an einen gerodeten, aber ganz überschwemmten Platz, auf dem eine Hütte stand. Auf dem flachen Rasendach lagen zwei in Decken gewickelte Männer. Jacob Welse, Courbertin und Bishop stürzten sich in die Hütte, in der die Flut wogte, um herauszufischen, was von der Habe dieser Männer noch brauchbar war.
»Passen Sie auf, zum Teufel, dass mein Tabak nicht nass wird«, bat einer der kranken Männer mit schwacher Stimme vom Dache.
»Was an deinem Drecktabak schon liegt!« flüsterte sein Kamerad. »Aber mein Mehl und mein Zucker, das ist wichtig!«
»Weil der Bursche Nichtraucher ist, Fräulein«, erklärte der erste Mann. »Aber die anderen Burschen sollen doch auf meinen Tabak acht geben.«
»Da hast du ihn, und damit Maul gehalten«, rief Del und warf dem Kranken seinen Tabaksbeutel hin, der danach griff, als wäre es ein Beutel mit Goldstaub.
»Was kann ich für euch tun?« fragte Frona. »Wir haben so einige Medizin mit uns, vielleicht haben wir das Richtige.«
»Uns kann nichts helfen, Fräulein, als das Land Gottes und rohe Kartoffeln. Wir haben Skorbut.«
»Aber was wollt ihr eigentlich hier? Marsch, aufs Trockene!«
In diesem Augenblick wurde mit Stöhnen und ungeheurem Krachen eine Eisscholle gegen die Hütte geschleudert. Die vorspringenden Eckpfähle zersplitterten, die Hütte schwankte. Courbertin und Jacob Welse waren darin. Dem Dröhnen folgte eine Sekunde tiefste Stille. Dann hörte man aus dem Innern die Stimme des Barons:
»Nach Ihnen, wenn ich bitte darf, Monsieur!«
Welse erschien mit vergnügtem Lachen; ihm folgte der höfliche Franzose, als sie sich zwischen der Eisscholle und den Pfählen ins Freie zwängten.
»Noch ein solches Osterei, und wir zwei sind erledigt, Billi!« sagte der Mann mit dem Tabak zu seinem Kameraden.
»Lange kann’s nicht dauern«, antwortete Bill. »Nicht weit von hier, bei Nulatto, hab’ ich mal gesehen, wie eine Insel reingefegt worden ist, ratzekahl, wie der Küchenfußboden bei meiner alten Mutter.«
»Retten müssen wir die Leute.«
Jacob Welse kletterte auf das Hüttendach und blickte auf die große weiße Barre1 hinab.
»Wo ist Phillips?«
»Der sitzt seit einer Stunde wie versteinert auf seinem Zelt.«
Welse sah von seinem Dach wie von einem Aussichtsturm auf die Fläche des Stroms. Der Stuart hatte neue Eismassen als eine Reservearmee ins Gefecht geworfen, der Yukon stieg wieder, und rings an der Küste warfen sich Schollen gegen den Wald. Mit Krachen und Knirschen wurden die Bäume zermalmt oder samt der Wurzel ausgerissen.
Frona und Bishop packten Bill an Schultern und Beinen und schleppten ihn ab, in der Richtung von Phillips Hütte. Jacob Welse