»Nein, ich meine einen Herrn, und zwar einen fremden Herrn.«
Mrs. Bennets Augen leuchteten auf.
»Ein Herr? Ein Fremder? Doch nicht Mr. Bingley? Jane, du hast ja nicht ein Sterbenswörtchen davon gesagt, du Geheimniskrämerin! Das freut mich aber sehr, Mr. Bingley wieder bei uns zu sehen. Aber, du lieber Gott, so ein Unglück! Wir kriegen so schnell keinen Fisch ins Haus!«
»Es ist nicht Bingley«, sagte Mr. Bennet, »ich habe unseren Gast noch niemals gesehen.«
Diese Mitteilung erweckte natürlich größtes Erstaunen; und zu seinem heimlichen Vergnügen bestürmten ihn seine sechs Damen von allen Seiten mit Fragen.
Erst nachdem er sich genügend an ihrer großen Neugierde geweidet hatte, bequemte er sich zu einer Erklärung: »Vor etwa einem Monat erhielt ich diesen Brief, auf den ich vor vierzehn Tagen antwortete; denn die Angelegenheit schien es mir wert zu sein, dass man sie mit Takt handhabte. Der Brief ist von meinem Vetter Collins; wie ihr wohl wisst, kann er euch nach meinem Tode hier vor die Tür setzen, wenn es ihm Spaß macht.«
»Ach, sprich nicht davon«, rief Mrs. Bennet aus. »Sprich nicht von diesem grässlichen Menschen. Schrecklich, wenn ich daran denke, dass dein ganzer Besitz in fremde Hände übergehen soll. Wäre ich du gewesen, ich hätte längst irgendetwas dagegen unternommen.«
Jane und Elisabeth versuchten, sie auf die Zwecklosigkeit hinzuweisen, etwas gegen eine Erbbestimmung unternehmen zu wollen. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen derartigen Versuch machten, aber Mrs. Bennets Verstand hatte noch jedes Mal aller Vernunft gespottet. Und sie musste sich auch jetzt bitterlich über die Grausamkeit beklagen, mit der man ihre Kinder zugunsten eines Menschen enterbte, mit dem man gar nichts zu schaffen haben wollte.
»Die Sache ist allerdings höchst peinlich«, sagte Mr. Bennet, »und nichts kann Mr. Collins von der schweren Schuld, Longbourn zu erben, reinwaschen. Aber wenn du einen Augenblick zuhören wolltest, würden dich vielleicht Inhalt und Ton seines Schreibens ein wenig versöhnlicher stimmen.«
»Ganz gewiss nicht! Ich finde es unverschämt von ihm, dir überhaupt zu schreiben, und reine Heuchelei. Ich verabscheue falsche Freunde. Warum streitet er sich nicht lieber mit dir, wie sein Vater es auch schon getan hat?«
»Hör’ zu, du wirst sehen, dass gerade dieser Punkt ihm einige Sorge macht.«
Hunsford bei Westerham, Kent 15. Oktober.
Sehr geehrter Herr,
die Unstimmigkeiten, die zwischen Ihnen und meinem verehrten Vater bestanden, sind mir von jeher ein Quell tiefsten Unbehagens gewesen. Seitdem das Schicksal ihn mir entrissen hat, ist mir oft der Wunsch gekommen, diesen Bruch wieder zu heilen. Aber Zweifel hemmten lange Zeit meine Schritte. Ich fürchtete, es könnte als mangelnde Ehrerbietung gedeutet werden, wenn ich mich mit jemandem gut stellte, mit dem es ihm sein Leben lang beliebte, schlecht zu stehen. Indessen, ich bin jetzt zu einem Entschluss gekommen; denn, nachdem ich zu Ostern ordiniert wurde, habe ich das Glück gehabt, mit dem Wohlwollen der Ehrenwerten Lady Catherine de Bourgh, Witwe des Sir Lewis de Bourgh, ausgezeichnet zu werden, durch deren Güte mir das wertvolle Pastorat dieser Gemeinde zugefallen ist, aus welchem Grunde es mein ernstes Bestreben sein soll, mich einer achtungsvollen Dankbarkeit gegen Lady de Bourgh zu befleißigen, sowie jederzeit bereit zu sein, die ehrwürdigen Bräuche zu zelebrieren, die die Kirche von England vorschreibt. Als Seelsorger betrachte ich es zudem als meine Aufgabe, die Segnungen der Friedfertigkeit in sämtlichen Familien, die unter meinem Einfluss stehen, zu fördern und zu verbreiten. Deswegen schmeichle ich mir, dass die Hand der Freundschaft, die auszustrecken ich im Begriff stehe, gern ergriffen wird, und ich hoffe, die Tatsache, dass ich nächster Erbe von Longbourn bin, wird von Ihnen großmütig übersehen werden, sodass diese meine Hand den Ölzweig nicht vergeblich angeboten haben muss. Ich kann natürlich nicht umhin, tief bekümmert darüber zu sein, dass Ihre verehrten Töchter durch mich einmal einen Schaden erfahren sollen, und ich bitte, meine Entschuldigung annehmen zu wollen zugleich mit der Versicherung meiner Bereitwilligkeit zu jeder erdenklichen Genugtuung – doch hiervon später mehr.
Wenn Sie nichts gegen meinen Besuch haben sollten, werde ich mir das große Vergnügen bereiten, Ihnen und Ihrer Familie Montag, den 18. November, gegen vier Uhr meine Aufwartung zu machen; ich dürfte dann vielleicht Ihre Gastfreundschaft bis zum übernächsten Sonnabend in Anspruch nehmen, was ich ohne Ungelegenheiten tun kann, da Lady Catherine weit davon entfernt ist, mir eine gelegentliche Abwesenheit über Sonntag zu verübeln, vorausgesetzt, dass jemand anders zur Stelle ist, um die Predigt zu halten.
Damit verbleibe ich, geehrter Herr, mit den ergebensten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin und an Ihre Töchter
Ihr wohlgeneigter Freund William Collins
»Ab vier Uhr dürfen wir also diesen Friedensengel erwarten«, sagte Mr. Bennet und schob den Brief wieder in den Umschlag zurück. »Er scheint ein sehr gewissenhafter und höflicher junger Mann zu sein, weiß Gott! Zweifellos ein wertvoller Zuwachs unseres Bekanntenkreises, falls Lady Catherine noch öfters so gütig ist und ihn uns besuchen lässt.«
»Na ja, was er da von den Mädchen schreibt, klingt gar nicht so dumm. Wenn er wirklich die Absicht hat, irgendein gutes Werk an ihnen zu tun, werde ich ihn bestimmt nicht davon zurückzuhalten versuchen.«
»Wenn es auch nicht ganz ersichtlich ist, wie er sich eine solche Vergütung denkt«, sagte Jane, »so ist doch sein guter Wille sehr anzuerkennen.«
»Er muss sehr merkwürdig sein«, meinte Elisabeth, »ich werde daraus nicht recht klug. Sein Brief klingt so feierlich. Und was meint er wohl damit, wenn er sich wegen seines Erbes entschuldigt? Sollen wir etwa glauben, dass er sich dagegen sträuben und dass er etwas dagegen unternehmen würde, wenn es in seiner Macht läge? Sollte er so feinfühlig sein, Vater?«
»Nein, meine Liebe, das glaube ich kaum. Im Gegenteil, ich glaube, er ist alles andere eher. Dieses Gemisch von Kriecherei und Wichtigtuerei in seinem Brief klingt sehr vielversprechend. Ich kann es schon gar nicht mehr erwarten, ihn zu sehen.«
»Was den stilistischen Aufbau der Epistel anbetrifft«, sagte Mary, »so kann man ihn als nicht ganz uneben bezeichnen. Die Wendung mit dem Ölzweig scheint mir nicht