Wirth. Ihre Tante?
Grain. Jawohl – sie stand mir näher, als sonst Tanten ihren Neffen zu stehen pflegen. Es waren sonderbare Familienverhältnisse . . . . . ich war verbittert, höchst verbittert. Darf ich Ihnen davon erzählen?
Wirth. Erzählen Sie immerhin, wir werden vielleicht ein Geschäft miteinander machen können.
Grain. Meine Schwester war noch ein halbes Kind, als sie aus dem Hause lief – und was glauben Sie – mit wem? –
Wirth. Es ist schwer zu errathen.
Grain. Mit ihrem Onkel. Und der hat sie sitzen lassen mit einem Kinde.
Wirth. Mit einem ganzen will ich hoffen.
Grain. Es ist unzart von Ihnen, Bürger Prospère, über solche Dinge zu scherzen.
Wirth. Ich will Ihnen 'was sagen, Sie schreiender Bimsstein. Ihre Familiengeschichten langweilen mich. Glauben Sie, ich bin dazu da, mir von einem jeden hergelaufenen Lumpen erzählen zu lassen, wen er umgebracht hat? Was geht mich das alles an? Ich nehme an, Sie wollen irgend 'was von mir –
Grain. Jawohl, Bürger Prospère, ich komme, Sie um Arbeit bitten.
Wirth höhnisch. Ich mache Sie aufmerksam, daß es bei mir keine Tanten zu ermorden giebt; es ist ein Vergnügungslokal.
Grain. Oh, ich hab' an dem einen Mal genug gehabt. Ich will ein anständiger Mensch werden – man hat mich an Sie gewiesen.
Wirth. Wer, wenn ich fragen darf?
Grain. Ein liebenswürdiger junger Mann, den sie vor drei Tagen zu mir in die Zelle gesperrt haben. Jetzt ist er allein. Er heißt Gaston . . . . und Sie kennen ihn. –
Wirth. Gaston! Jetzt weiß ich, warum ich ihn drei Abende lang vermißt habe. Einer meiner besten Darsteller für Taschendiebe. – Er hat Geschichten erzählt; – ah, man hat sich geschüttelt.
Grain. Jawohl. Und jetzt haben sie ihn erwischt!
Wirth. Wieso erwischt? Er hat ja nicht wirklich gestohlen.
Grain. Doch. Es muß aber das erste Mal gewesen sein, denn er scheint mit einer unglaublichen Ungeschicklichkeit vorgegangen zu sein. Denken Sie – vertraulich – auf dem Boulevard des Capucines einfach einer Dame in die Tasche gegriffen – und die Börse herausgezogen – ein rechter Dilettant. – Sie flößen mir Vertrauen ein, Bürger Prospère – und so will ich Ihnen gestehn – es war eine Zeit, wo ich auch dergleichen kleine Stückchen aufführte, aber nie ohne meinen lieben Vater. Als ich noch ein Kind war, als wir noch alle zusammen wohnten, als meine arme Tante noch lebte –
Wirth. Was jammern Sie denn? Ich finde das geschmacklos! Hätten Sie sie nicht umgebracht!
Grain. Zu spät. Aber worauf ich hinaus wollte – nehmen Sie mich bei sich auf. Ich will den umgekehrten Weg machen wie Gaston. Er hat den Verbrecher gespielt und ist einer geworden – ich . . . . .
Wirth. Ich will's mit Ihnen probieren. Sie werden schon durch Ihre Maske wirken. Und in einem gegebenen Moment werden Sie einfach die Sache mit der Tante erzählen. Wie's war. Irgend wer wird Sie schon fragen.
Grain. Ich danke Ihnen, Bürger Prospère. Und was meine Gage anbelangt –
Wirth. Heute gastieren Sie auf Engagement, da kann ich Ihnen noch keine Gage zahlen. – Sie werden gut zu essen und zu trinken bekommen . . . und auf ein paar Franks für ein Nachtlager soll's mir auch nicht ankommen.
Grain. Ich danke Ihnen. Und bei Ihren anderen Mitgliedern stellen Sie mich einfach als einen Gast aus der Provinz vor.
Wirth. Ah nein . . . . . denen sagen wir gleich, daß Sie ein wirklicher Mörder sind. Das wird ihnen viel lieber sein.
Grain. Entschuldigen Sie, ich will ja gewiß nichts gegen mich vorbringen – aber das versteh' ich nicht.
Wirth. Wenn Sie länger beim Theater sind, werden Sie das schon verstehn.
Scaevola und Jules treten ein.
Scaevola. Guten Abend, Direktor!
Wirth. Wirth . . . Wie oft soll ich Dir noch sagen, der ganze Spaß geht flöten, wenn Du mich »Direktor« nennst.
Scaevola. Was immer Du seist, ich glaube, wir werden heut nicht spielen.
Wirth. Warum denn?
Scaevola. Die Leute werden nicht in der Laune sein – –. Es ist ein Höllenlärm in den Straßen, und insbesondere vor der Bastille schreien sie wie die Besessenen.
Wirth. Was geht das uns an? Seit Monaten ist das Geschrei, und unser Publikum ist uns nicht ausgeblieben. Es amusirt sich wie früher.
Scaevola. Ja, es hat die Lustigkeit von Leuten, die nächstens gehenkt werden.
Wirth. Wenn ich's nur erlebe!
Scaevola. Vorläufig gieb uns 'was zu trinken, damit ich in Stimmung komme. Ich bin heut durchaus nicht in Stimmung.
Wirth. Das passirt Dir öfter, mein Lieber. Ich muß Dir sagen, daß ich gestern durchaus unzufrieden mit Dir war.
Scaevola. Wieso, wenn ich fragen darf?
Wirth. Die Geschichte von dem Einbruch, die Du zum Besten gegeben hast, war einfach läppisch.
Scaevola. Läppisch?
Wirth. Jawohl. Vollkommen unglaubwürdig. Das Brüllen allein thut's nicht.
Scaevola. Ich habe nicht gebrüllt.
Wirth. Du brüllst ja immer. Es wird wahrhaftig nothwendig werden, daß ich die Sachen mit Euch einstudire. Auf Euere Einfälle kann man sich nicht verlassen. Henri ist der Einzige.
Scaevola. Henri und immer Henri. Henri ist ein Coulissenreißer. Der Einbruch von gestern war ein Meisterstück. So was bringt Henri sein Lebtag nicht zusammen. – Wenn ich Dir nicht genüge, mein Lieber, so geh' ich einfach zu einem ordentlichen Theater. Hier ist ja doch nur eine Schmiere . . . Ah . . . bemerkt Grain. Wer ist denn das? . . . Der gehört ja nicht zu uns? Hast Du vielleicht einen neu engagirt? Was hat der Kerl für Maske?
Wirth. Beruhige Dich, es ist kein Schauspieler von Beruf. Es ist ein wirklicher Mörder.
Scaevola. Ach so . . . . Geht auf ihn zu. Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Scaevola ist mein Name.
Grain. Ich heiße Grain.
Jules ist die ganze Zeit in der Schenke herumgegangen, manchmal auch stehen geblieben, wie ein innerlich Gequälter.
Wirth. Was ist denn mit Dir, Jules?
Jules. Ich memorire.
Wirth. Was denn?
Jules. Gewissensbisse. Ich mache heute Einen, der Gewissensbisse hat. Sieh mich an. Was sagst Du zu der Falte hier auf der Stirn? Seh' ich nicht aus, als wenn alle Furien der Hölle . . . Geht auf und ab.
Scaevola brüllt. Wein – Wein her!
Wirth. Beruhige Dich . . . es ist ja noch kein Publikum da.
Henri und Léocadie kommen.
Henri. Guten Abend! Er begrüßt die Hintensitzenden mit einer leichten Handbewegung. Guten Abend, meine Herren!
Wirth. Guten Abend, Henri! Was seh' ich! Mit Léocadie!
Grain hat Léocadie aufmerksam betrachtet, zu Scaevola. Die kenn' ich ja . . . spricht leise mit den Anderen.
Léocadie. Ja, mein lieber Prospère, ich bin's!
Wirth. Ein Jahr lang hab' ich Dich nicht gesehen. Laß Dich begrüßen. Er will sie küssen.
Henri. Laß das! – Sein Blick ruht öfters auf Léocadie mit Stolz, Leidenschaft, aber auch mit einer gewissen Angst.
Wirth. Aber Henri . . . Alte Kollegen! . . . . Dein einstiger Direktor, Léocadie.
Léocadie. Wo ist die Zeit, Prospère!