Die erste große Umwandlung vollzog sich in mir, als ich etwa 7 Jahre alt war. Ich wüßte keine äußere Ursache dafür zu nennen. Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß damals die Vernunft in mir zur Herrschaft kam. Ich erinnere mich gut, daß ich von da ab die Überzeugung hatte, meine Mutter und meine Schwester Frieda wüßten besser als ich, was für mich gut wäre, und daß ich ihnen in diesem Vertrauen bereitwillig gehorchte. Der alte Eigenwille schien verschwunden, ich war in den folgenden Jahren ein leicht lenksames Kind. Hatte ich mir eine Unfolgsamkeit oder eine ungezogene Antwort erlaubt, so bat ich bald wieder um Verzeihung, obwohl mich das jedesmal die größte Überwindung kostete, und war glücklich, wenn dann der Friede wieder hergestellt war. Zornesausbrüche kamen kaum noch vor; ich erreichte schon früh eine so große Selbstbeherrschung, daß ich fast ohne Kampf eine gleichmäßige Ruhe bewahren konnte. Wie das geschah, weiß ich nicht; ich glaube aber, daß der Abscheu und die Scham, die ich bei Zornesausbrüchen anderer empfand, das lebhafte Gefühl für die Würdelosigkeit eines solchen Sich-gehen-Lassens mich geheilt hat.
Allmählich wurde es auch in der inneren Welt lichter und klarer. Gehörtes und Gesehenes, Gelesenes und Selbsterlebtes boten einer regen Phantasie Stoff zu den kühnsten Bauten. Ein großes Ereignis, das mich lange beschäftigte, war der 80.Geburtstag einer Großtante, zu dem aus der weitverzweigten Verwandtschaft wohl 100 Personen geladen waren. Die alte Dame (Frau Ernestine Radlauer; ich habe den Namen schon früher einmal erwähnt) hatte selbst ihren jugendlichen Frohsinn noch bewahrt, und ihre vielseitig begabten Kinder und Enkel verstanden es, glänzende Feste vorzubereiten. Auf dem reichhaltigen Programm stand diesmal ein Tanz aus Großmutters Jugendtagen, den 8 Kinderpaare in Kostümen der Zeit aufführen sollten. Die Ballettmeisterin des Stadttheaters, eine Französin, übte ihn ein. Meine Schwester und ich waren eins der Paare; wir waren damals 9 und 7 Jahre alt. Da wir zu den Jüngsten gehörten und in keiner Kindertanzstunde vorgebildet waren, traute man uns nicht viel zu und stellte uns ganz in den Hintergrund. Aber schon in der ersten Probe holte uns Mme. Prochère in die vorderste Reihe. Sie war begeistert von der Fixigkeit, mit der ich ihre Ideen erfaßte und ihnen entsprach. Sie fragte mich öfters, ob ich nicht ganz zu ihr ins Ballett kommen wollte. Ich hielt diese Frage für gar keiner ernsthaften Antwort wert; trotzdem schmeichelte sie meiner Eitelkeit sehr. Erna war etwas steifer; aber das schadete nichts, weil sie der »Herr« war. Sie bekam einen Frack aus braunem Samt und hellblaue Kniehosen, ich ein Kleidchen aus hellem, geblümtem Stoff, dazu hochfrisierte Haare mit Rosen darin.
Man hatte uns angekündigt, daß wir auch geschminkt werden müßten. Dagegen protestierte ich lebhaft, und zu meiner Freude erwies es sich vor dem Festabend als völlig überflüssig, weil wir alle vor Erregung glühten und keines künstlichen Rot mehr bedurften. Man klatschte uns reichlich Beifall; ich wurde zusammen mit einer Cousine, der man neben mir den Preis der besten Tänzerin zusprach, zu dem greisen Geburtstagskind geführt, um einen besonderen Dank zu empfangen. Dann hob mich mein Onkel David mit beiden Händen empor und stellte mich auf eine hohe Fensterbank, damit alle Menschen in dem großen Saal das winzige Persönchen recht sehen könnten. An diesem Abend guckte ich den Erwachsenen alle Tänze ab und wurde schließlich von ihnen mit aufgefordert. In den nächsten Wochen brachte mir mein Bruder Arno, der ein guter Tänzer war, zu Hause bei, was mir etwa noch fehlte. Er war damals 22 Jahre alt und von stattlicher Länge, mußte sich also tief hinunterbücken, um mit mir zu tanzen. Das störte aber beide Teile nicht. Als wir von jenem strahlenden Fest heimgehen mußten, schenkte mir eine schöne und vielbewunderte Cousine die Schneeglöckchen, die sie im Gürtel getragen hatte. Damit zog ich dann beglückt ab. Am nächsten Morgen fanden es meine großen Schwestern für gut, mir zu berichten, es hätten sich alle Leute über meine koketten Blicke beim Tanzen gewundert. Ich sagte: »Wie lächerlich!«; denn der »Kavalier«, mit dem ich kokettierte, war ja nur meine Schwester Erna. Daß die Siebenjährige den Vorwurf verstand und zurückwies, zeigt genügend, wie es in dem kleinen Köpfchen aussah.
In meinen Träumen sah ich immer eine glänzende Zukunft vor mir. Ich träumte von Glück und Ruhm, denn ich war überzeugt, daß ich zu etwas Großem bestimmt sei und in die engen, bürgerlichen Verhältnisse, in denen ich geboren war, gar nicht hineingehörte. Von solchen Träumen sprach ich ebenso wenig wie von den Beängstigungen, die mich früher gequält hatten. Man merkte nur, daß ich verträumt war, und schreckte mich oft auf, wenn ich nicht merkte, was um mich herum vorging. Für diese wuchernde Phantasie war es gut, daß ich früh zur Schule kam und daß der lebhafte Geist solide Nahrung bekam. Als Erna mit 6 Jahren anfing, in die Schule zu gehen, und ich nicht mitdurfte, war ich sehr unglücklich. Weil ich nun zu Hause keine Gesellschaft mehr hatte, wurde ich in einem Kindergarten angemeldet. Das hielt ich für tief unter meiner Würde. Es kostete jeden Morgen einen heftigen Kampf, mich hinzubringen. Ich war unliebenswürdig gegen die andern Kinder und schwer zum Mitspielen zu bewegen. Meine Geschwister hatten abwechselnd die unangenehme Aufgabe, mich hinzuführen. Einmal war mein ältester Bruder an der Reihe. Als wir zum Haus herauskamen, merkte ich, daß es etwas regnete. Ich erklärte sofort, ich könnte auf dem nassen Boden nicht gehen, ich wollte umkehren oder er sollte mich tragen. Der gute Paul nahm mich sofort auf den Arm und trug mich den ganzen Weg. Mittags erklärte mir meine Mutter, ein so großes Mädchen müßte sich doch schämen, sich tragen zu lassen. Ob ich mich wenigstens bedankt hätte? Sonst sollte ich das jetzt nachholen. Das kostete wieder schwere Überwindung. Denn mein großer Bruder pflegte alles zu tun, was ich wollte, ohne Bitte und Dank zu beanspruchen. Er konnte mich stundenlang auf seinen Schultern im Zimmer herumtragen, während ich mich an seinen Haaren festhielt; dazu sang er mir unermüdlich Studenten- und Volkslieder vor. Zu seinem und meinem Vergnügen zeigte er mir oft die Bilder in seiner großen Literaturgeschichte und fragte mich, wen oder was sie vorstellten; und in seinem Eifer hielt er dabei die Unterschriften zu, obgleich ich noch nicht lesen konnte.
Als mein 6.Geburtstag herannahte, beschloß ich, dem verhaßten Kindergartendasein ein Ende zu machen. Ich erklärte, daß ich von diesem Tage an unbedingt in die »große Schule« gehen wollte, und wünschte mir das als einziges Geburtstagsgeschenk; andernfalls wollte ich ohne dieses keine andern annehmen.