Bei der großen Ausdehnung unserer Familie und dem engen Zusammengehörigkeitsgefühl aller Glieder konnte es nicht ausbleiben, daß bald da, bald dort Sorgen und Ängste mitzutragen waren. Unsere großen Schwestern kamen abwechselnd an die Reihe, eine kranke Tante ins Bad zu begleiten, einer andern beizustehen, die eine schwere Operation durchzumachen hatte, eine dritte im Wochenbett zu pflegen. Kam so ein telefonischer Hilferuf aus Berlin oder anderswoher, dann überlegte meine Mutter nicht lange, sondern gab kurzerhand den Befehl an eine ihrer Töchter: »Mach dich reisefertig.«
Mehr als durch alle Krankheitsfälle wurde die ganze Familie jahrelang durch eine andere Sorge in Spannung gehalten. Unter den 14 Geschwistern meiner Mutter war ein »schwarzes Schaf«, ihr Bruder Siegmund, einige Jahre jünger als sie. Er war ein gutmütiger Mensch, hatte die Freude meines Großvaters am Schenken, und wenn er kam, so brachte er gewöhnlich für jedes Kind etwas mit. Er besaß auch manche Anlagen zu einem tüchtigen Kaufmann, vor allem eine hervorragende Rechenfähigkeit. Aber es fehlte ihm die strenge Rechtlichkeit seiner Eltern und Geschwister, und er war schlechten Einflüssen leicht zugänglich. Er selbst neigte zur Verschwendung, seine Frau mindestens ebenso. So lebten sie immer über die Verhältnisse, und immer wieder mußten die Geschwister eingreifen, um ihnen wieder auf die Füße zu helfen. Erst lebten sie mit ihren drei Söhnen in Glatz, dann eine Reihe von Jahren in Breslau. Der Jüngste war jener Liebling meiner Mutter, der sich am liebsten bei uns aufhielt. Die Kinder empfanden es alle, daß ihre eigene Mutter nicht im mindesten verstand, mit ihnen umzugehen. Wenn sie mit ihrem unablässigen nörgelnden Gerede ihnen gar zu lästig wurde, nahm sie der mittlere auf den Arm, trug sie in ein anderes Zimmer und schloß sie dort ein. Als er einmal bei uns war, umarmte er meine Mutter und sagte: »Warum ist unsere Mutter nicht wie Du?« Am meisten hatte ihr Ältester unter ihr zu leiden, weil er ganz anders war als andere Kinder. Obgleich er nur wenige Jahre älter war als wir, nahm er doch an unseren Spielen nicht mehr teil. Von Kindheit an brachte er die großen Leute in Verlegenheit durch seine unermüdlichen Fragen, auf die sie oft keine Antwort wußten. Später saß er am liebsten über seinen Büchern; er interessierte sich für alles Wißbare, vor allem aber war er ein vorzüglicher Mathematiker.
Mit dem Zusammenbruch des Breslauer Geschäfts hing das unglückliche Ende unseres Onkels Jakob zusammen. Im Anschluß daran gab es so unerfreuliche geschäftliche Auseinandersetzungen, daß die Geschwister beschlossen, den Verkehr mit diesem Ehepaar aufzugeben. Meine Mutter litt sehr unter diesen Vorfällen. Einen Schatten auf dem Namen ihres Vaters zu wissen, den Zwist unter ihren Brüdern mit anzusehen, war ihr schrecklich. Und wenn sie viele Jahre hindurch mit ihrem Bruder nicht mehr zusammenkam, so zeigte sie seinen Kindern um so herzlichere Teilnahme und Hilfsbereitschaft und hatte die große Freude, daß sie alle brave und tüchtige Menschen wurden, die durch eigenen Ernst ersetzten, was die Eltern in ihrer Erziehung versäumt hatten. Ihr Liebling Ernst ging mit Vater und Mutter nach Berlin und blieb am längsten bei ihnen. Ich erwähnte schon, daß er im Weltkrieg gefallen ist. Der zweite Sohn Fritz wurde von der Firma, bei der er seine kaufmännische Ausbildung erhielt, schon früh nach Rom geschickt und hat seine Stellung dort noch heute inne. Richard, der Älteste, blieb in Breslau und verdiente sich mit Mathematikstunden das Geld, um seine Gymnasial- und Universitätsstudien bestreiten zu können. Als Unterprimaner bereitete er schon andere zum Abitur vor, und als ihm erklärt wurde, daß dies nicht gestattet sei, ging er vom Gymnasium ab und bestand das Maturium als Externer. Dann begann er Mathematik zu studieren, ging nach einigen Semestern als Assistent zu David Hilbert nach Göttingen, habilitierte sich dort und bekam später die Professur des zweiten führenden Göttinger Mathematikers Felix Klein. (Bei der »Reinigung« der Universität von »Nichtariern« verlor auch er seine Stellung. Eben bereitet er seine Übersiedlung nach Amerika vor.) Solange er noch in Breslau war, besuchte er uns häufig. Eine Zeitlang kam er jede Woche einmal zum Mittagessen. Wir freuten uns immer darauf, weil er die erstaunlichsten witzigen Einfälle hatte. In diesem trokkenen, humoristischen Ton hielt er aber mit meiner Mutter die ernstesten Beratungen, wie er seinen Eltern beistehen und seinen Vater von unsoliden Geschäften zurückhalten könnte. Er durchschaute die Verhältnisse ganz scharf und klar, hielt aber den Verkehr mit ihnen immer aufrecht und ließ sich durch nichts in seiner Kindesliebe beirren. Wir wußten bei diesen Gesprächen meist nicht, ob wir über die komische, oft drastisch übertreibende Ausdrucksweise lachen oder über den Inhalt weinen sollten.
Zu diesen ernsten Sorgen kamen weniger schwerwiegende Zerwürfnisse in der Familie, die meiner Mutter aber auch viel Kummer bereiteten. Die Brüder Courant hingen sehr aneinander, aber aus Empfindlichkeit und Rechthaberei gerieten sie oft aneinander, und es konnte dann vorkommen, daß sie jahrelang kein Wort miteinander sprachen und es vermieden zusammenzutreffen. Die sehr viel friedlicher gesinnten Schwestern litten darunter sehr und suchten immer zu vermitteln; aber das war keine einfache Sache. Glückte die Versöhnung zwischen zwei solchen Eisenköpfen, dann war niemand froher als sie. Sie erwiesen einander dann alle möglichen Aufmerksamkeiten, ja sie wagten, durch die Erfahrung nicht belehrt, wieder ein so nahes Zusammenleben, daß bei der nun einmal vorhandenen Eigenart ein neuer Zusammenstoß kaum zu vermeiden war.
2.
Zu den großen und kleinen Sorgen in der weiteren Familie kamen auch immer wieder aufregende Ereignisse in der engeren. Ich habe schon erwähnt, wie heftig sich meine Mutter gegen die Verlobung und Eheschließung meines Bruders Paul wehrte. Seine Hochzeit war die erste, die ich mitmachte. Natürlich war die Freude an diesem Fest für uns Kinder so groß, daß wir den Kummer unserer Mutter darüber vergaßen. Und wie stolz war ich, als ich mit 10 Jahren zum erstenmal Tante wurde! Auch meine Mutter schloß ihren ersten Enkel sofort fest in ihr Herz. Aber die mangelhafte Pflege, die der kleine Gerhard bei seiner Mutter hatte, war für sie eine Quelle beständiger Aufregung. Jeder Besuch in dem »genialen« Haushalt meiner Schwägerin kostete sie schwere Überwindung. Die glückliche junge Mutter hatte vorher nie ein neugeborenes Kind gesehen. Sie war sehr enttäuscht, daß ihr Bübchen nicht mit langen blonden Locken zur Welt kam. Meine Mutter geriet fast außer sich, wenn ihre Schwiegertochter immer wieder versicherte, diese Unerfahrenheit habe nichts zu sagen, der »Instinkt der Mutter« ersetze alles. Tatsächlich hinderte dieser »Instinkt« nicht, daß das kräftige und gesunde Kind in einen jämmerlichen Zustand kam. Nun nahm meine Mutter den Kleinen zu uns, und in der sorgfältigen Pflege von Großmutter und Tanten verloren sich bald alle Schäden. Dieser Vorgang hat sich noch oft wiederholt. Jedesmal, wenn meine Mutter das Kind krank und ohne die nötige Pflege fand, wickelte sie es in eine große Decke, ließ eine Taxe kommen und nahm es mit nach Hause. Gerhard hat alle seine Kinderkrankheiten bei uns durchgemacht. Natürlich war die Großmama, zu der es überhaupt alle Kinder hinzog, sein Höchstes; sie ging ihm weit über die Eltern.
Es ist begreiflich, daß die Mutter eifersüchtig wurde. Das zweite Kind, den kleinen Harald, bekamen wir selten zu sehen. Er starb schon in seinem zweiten Lebensjahr an einem verschleppten Scharlach. Seitdem blieb Gerhard der Einzige. In den ersten Jahren besuchte er uns täglich, wenn er nicht für Wochen ganz bei uns war. Anfangs kam er auf dem Arm des Mädchens. Er hatte nun wirklich schöne, goldblonde Löckchen, dazu große dunkle Augen, war überhaupt ein bildhübsches Kerlchen, das jetzt allen Träumen seiner Mutter entsprach. Wenn er in seinem weißen Mäntelchen und Kapüzchen in die Straßenbahn getragen wurde, hieß es: »Das Christkindel kommt.« Er konnte laufen und sprechen, ehe er ein Jahr alt war; im zweiten Jahr fing er schon an, kleine Einkäufe in der Nachbarschaft selbständig zu besorgen; ja, es kam vor, daß er aus dem Höfchen, in dem er allein spielte, durch die Haustür entwischte, im Nebenhaus eine Tüte Kirschen einkaufte und dazu sagte: »Die Großmama wird's bezahlen.« Mit drei Jahren machte er die Straßenbahnfahrt zu uns schon allein. Er wurde zu Hause an die Haltestelle geführt und bei uns abgeholt. Alle Schaffner kannten ihn. Manchmal