Alle diese Umstände trugen dazu bei, daß seine Praxis allmählich auf ein Minimum zusammenschmolz, und brachten außerdem bei jedem Verkehr mit andern die Gefahr eines Zusammenpralls mit widersprechenden Auffassungen. In alle diese Schwierigkeiten wurde natürlich auch seine Frau verwickelt. Sie liebte und verehrte ihren Mann und verteidigte in seiner Abwesenheit seine Ansichten in ihrer leidenschaftlichen Weise auf Tod und Leben. Das hinderte sie aber nicht, ihm selbst bei jeder Gelegenheit zu widersprechen, so daß es trotz der gegenseitigen Zuneigung keinen Frieden im Haus gab. Von vornherein war es für meinen Schwager schwer zu ertragen, daß nichts in Hamburg meine Schwester befriedigen konnte, daß sie immer über Einsamkeit klagte, sich »nach Hause« sehnte und nach ihren Angehörigen verlangte. Gleich im ersten Jahr nach ihrer Hochzeit, als er sie einmal niedergedrückt fand und nach der Ursache fragte, sagte sie, sie sehne sich so sehr nach »den Kindern«. Er war etwas betroffen über diese Antwort – die Geburt des ersten Kindes war in einigen Monaten zu erwarten. Da kam die Aufklärung, »die Kinder« seien ihre jüngsten Schwestern. Sofort gab er bereitwillig die Erlaubnis, uns für die Sommerferien einzuladen.
Die Reise nach Hamburg war für uns ein großes Ereignis. Wir waren bisher noch nie so weit gekommen; außerdem kannten wir ja unseren Schwager noch nicht. Wir hatten allen Grund, von ihm entzückt zu sein. Er empfing uns mit brüderlicher Herzlichkeit und überhäufte uns mit Aufmerksamkeiten. Die Sehenswürdigkeiten von Hamburg zeigte uns freilich unsere Schwester allein, weil er dafür keine Zeit hatte; aber Sonntag ging er mit uns aus, und wir waren ein dankbareres Publikum als unsere Schwester, wenn wir in den »Alsterpavillon« geführt wurden, wenn wir uns nach unserem Geschmack Kuchen oder Torte zum Kaffee aussuchen durften, unter einem eleganten internationalen Reisepublikum saßen und den Ausblick auf die Binnenalster mit ihren vielen Dampf- und Segelbooten genossen; oder wenn wir in dem schönen Ratskeller ein Souper mit unbekannten Genüssen vorgesetzt bekamen. Höchst ergötzlich waren uns auch die Scherze unseres Schwagers, der selten ein ernstes Wort sprach, sondern einen großen Vorrat an stehenden Redensarten hatte, die bei den verschiedensten Gelegenheiten vorgebracht wurden. Meist gehörte eine nette Anekdote dazu, die dann auch gelegentlich in trockenem Ton erzählt wurde. Und mit größter Freude hörten wir zu, wenn er stundenlang Klavier spielte und sang. Er hatte nicht viel Unterricht gehabt, war aber sehr musikalisch und hatte durch beständige Übung eine große Fertigkeit erlangt. Außerdem war er ein geborener Komiker; einer seiner Brüder hatte tatsächlich diesen Beruf gewählt. An unserem Schwager lag es also nicht, wenn trotz all dieser Freuden Hamburg im Lauf der Jahre für uns seine Anziehungskraft verlor und wir den Wunsch meiner Schwester, daß wir alle unsere freie Zeit bei ihr verbringen sollten, nicht erfüllten. Es lag an den geschilderten unerquicklichen häuslichen Verhältnissen, wie sie sich allmählich herausbildeten.
Als die Kinder kamen, mehrten sich die Schwierigkeiten. Das Telegramm, das uns die Geburt des ersten Töchterchens meldete, kam wieder an einem denkwürdigen Tag. Es war der 27.September 1904, und meine Mutter mit ihrem ganzen Personal war damit beschäftigt, den Umzug des großen Holzlagers auf das neuerworbene eigene Grundstück zu bewerkstelligen. Als meine Schwester Erna ihr die Freudenbotschaft aus der Wohnung ins Geschäft brachte, wandte sie sich an den Fuhrwerksbesitzer, der den Umzug besorgte: »Ich muß jetzt abreisen. Ihnen vertraue ich alles an und verlasse mich auf Sie, daß alles gut besorgt wird.« Es war einer jener Geschäftsfreunde, die sie wie eine Mutter verehrten. Er übernahm den Auftrag mit Freude und Stolz. Meine Mutter ging nach Hause, machte sich reisefertig und fuhr noch am selben Tag ab. Als Wochenpflegerin war schon meine Schwester Frieda in Hamburg. Der Frauenarzt, der meine Schwester behandelte, neckte sie nach der Entbindung, weil sie beständig gerufen hätte: »Telegraphieren! Telegraphieren!« Und er freute sich, die Mutter zu sehen, nach der so stürmisch verlangt worden war. Bei der Namengebung durften wir alle mit abstimmen. Die Kleine bekam den Rufnamen, auf den sich ihre Tanten geeinigt hatten: Ilse. Dazu kam noch der Name ihrer Großmutter väterlicherseits – Mathilde, außerdem der Name der Freundin, die meine Schwester nach Hamburg gerufen hatte – Felicitas. Die kleine Ilse Mathilde Felicitas war ein zartes Kindchen. Ihre Mutter war ja selbst ein zartes Persönchen und hatte überdies bis kurz vor der Hochzeit im Schuldienst gestanden, der sie sehr anstrengte; sie litt immer viel unter Kopfschmerzen, und in der Zeit der Erwartung ging es ihr recht schlecht. Als wir wenige Monate vor der Geburt des Kindes in Hamburg waren, hatte man uns nichts von dem bevorstehenden Ereignis gesagt. Wir waren ja noch Kinder, und man sprach zu Hause mit uns nicht über solche Dinge, obgleich wir längst durch Freundinnen »aufgeklärt« waren. Meine Schwester rühmte mir später immer nach, wie besorgt ich in diesen Wochen um sie gewesen sei, wie ich sie die Treppen herauf- und hinuntergeführt hätte usw., obgleich ich offiziell »nichts wußte«. Nach unserer Rückkehr aus den Ferien wurden wir doch in das Geheimnis eingeweiht, weil die »Großen« es nicht übers Herz brachten, die entzükkende Baby-Ausstattung abgehen zu lassen, ohne sie uns zu zeigen.
Meine Schwester ließ es sich nicht nehmen, ihre Kinder selbst zu nähren, und zwar immer sehr lange – so lange, bis das nachfolgende sie zum Aufhören zwang. Sie entwickelten sich auch alle gut; Ilschen blieb immer zart, war aber gesund, die andern waren schon von Geburt an kräftige Kinder. Die Älteste hing am meisten an der Mutter und war sehr scheu gegen fremde Menschen. Die Großmutter konnte sich bei ihren Besuchen gar nicht darein finden, daß sie auch zu ihr nicht gehen mochte, während doch sonst alle Kinder sich zu ihr hin{{ge}}zogen {{fühlten}}. Später wurde das anders. Die Kinder wurden mit der sehnsüchtigen Liebe der Mutter zu den Ihren erfüllt; sie verlangten immer wieder nach Breslau und nach den Besuchen von dort.
Meine Mutter war früher fast nie verreist; nur »nach Hause« fuhr sie regelmäßig, d.h. nach Lublinitz, um die Geschwister und die Gräber der Eltern zu besuchen und die kleinen Kindergräber, die sie dort zurückgelassen hatte. Aber dafür brauchte sie meist nur den Sonntag. Sehr selten gab es auch einen kurzen Besuch bei den Geschwistern in Berlin. Ihre jüngste Schwester Emma war dort verheiratet. Sie wurde nach dem Tode der Eltern von den Geschwistern wie ein Kind betreut, behielt auch ihr ganzes Leben lang etwas Kindliches. Als meine Mutter dort einmal überraschend hinkam und der junge Schwager ihr die Türe öffnete, nahm er sie in seiner Freude mit beiden Armen und trug sie zu seiner kleinen Frau. Die ganze Familie, Eltern und drei Kinder, waren oft unsere Feriengäste.
Für meine Schwester Else gab es natürlich nichts Höheres als den Besuch der Mutter. Sie fuhr in den ersten Jahren immer Weihnachten für acht Tage hin. Das war eine lange, lange Zeit für sie und für uns. Obgleich wir sie doch auch sonst tagsüber nicht bei uns hatten, kam uns das Haus in dieser Woche tot und leer vor, und wir wußten nicht, was wir mit uns anfangen sollten. Sie selbst fühlte sich nicht minder unbehaglich. Sie war sonst niemals krank, aber in dem ungewohnten Hamburger Klima bekam sie gewöhnlich rheumatische Schmerzen. Sehr schwer war es ihr immer, so lange in einem Haushalt zu sein, der nicht rituell geführt wurde. Sonst hatte sie einen sehr gesunden Appetit und konnte kräftig essen; aber dort widerstand ihr alles. Am meisten aber litt sie darunter, daß sie die Haushaltsführung ihrer Ältesten und die Art, wie sie mit Mann und Kindern umging, nicht billigen konnte. Die mütterlichen Ermahnungen, mit denen nicht gespart wurde, waren ganz fruchtlos, da Else nicht zur Einsicht eines Fehlers zu bringen war. So gab es nur beständige Auseinandersetzungen, die beiden die Freude am Zusammensein verdarben. Fast noch schlimmer war es bei ihren Besuchen in Breslau, weil sie dann gegen eine geschlossene Phalanx anrannte.
Als das zweite Kind zur Welt kam, war ich bei meiner Schwester. Ostern 1906 hatte ich die Schule verlassen und war auf Elses Wunsch zu ihr gefahren, um ihr Gesellschaft zu leisten und zu helfen und dabei Hauswirtschaft und Kinderpflege zu erlernen. Ich hatte eine Rückfahrkarte, die sechs Wochen Gültigkeit hatte; aber sie wurde für den Rückweg von jemand anderem benützt, und ich blieb da. Ich hatte zu Hause als verwöhnte Jüngste und in dem fröhlichen Kreis von Geschwistern und Verwandten ein viel bequemeres und angenehmeres Leben. Trotzdem äußerte ich nie den Wunsch heimzufahren. Ich wagte es nicht, weil ich wußte, wie sehr ich meiner Schwester damit wehtun würde. Sie war 15 Jahre älter als ich, hatte mich als kleines Kind mit großer Liebe betreut und versichert mir heute noch, daß sie mich ebenso liebe wie ihre eigenen Kinder. Als ich hinkam, war Ilschen noch allein; sie war anderthalb Jahre alt, und es