Das Verhältnis meiner Mutter zu ihren Arbeitern war ein durchaus patriarchalisches. Zu Weihnachten wurden sie mit Geld, Lebensmitteln und Kleidern für die Kinder beschenkt. Das Geld bekamen sie aber nicht in die Hand (damit es nicht vertrunken würde); es wurden Sparkassenbücher für sie angeschafft und die Geschenke regelmäßig eingezahlt. Jahrelang hatten wir einen jungen, besonders tüchtigen Arbeiter, den meine Mutter sehr gern leiden mochte. Er hatte schon vorher in anderen Holzgeschäften gearbeitet, war den meisten Kunden bekannt und wurde von allen mit seinem Vornamen – Hermann – genannt. Er stand ganz allein und hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Auch er trank gern etwas zuviel und ging immer sehr zerlumpt und abgerissen herum. Meine Mutter gab sich große Mühe, einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Er war ein bildhübscher Bursche und sah blühend und kräftig aus, war aber lungenleidend. Schließlich mußte er ins Krankenhaus gehen; er hatte lange nicht daran glauben wollen und hoffte bis zuletzt, daß er bald wieder anfangen könnte zu arbeiten. Meine Mutter besuchte ihn jeden Sonntag und nahm ihm die besten Kräftigungsmittel mit. Sie betrauerte ihn sehr, als er starb.
Ein anderer, der mit ihm zusammengearbeitet hatte, blieb noch viele Jahre bei uns. Meißner war sehr unfreundlich und ließ sich wenig sagen, aber er arbeitete tüchtig und meine Mutter hätte auf seine Ehrlichkeit geschworen. Darum behielt sie ihn immer wieder und war auch für ihn und seine vielen Kinder sehr besorgt. Sie ließ ihm regelmäßig durch einen Geschäftsfreund, einen Großhändler aus Polen, ein besonderes Mittel gegen sein Asthma kommen. Seine erste Frau half öfters bei uns im Haushalt. Sie war sehr sauber und ordentlich, sehr auf ihre Kinder bedacht, aber nicht ganz ehrlich. Eines Tages wurde bei uns ein Bügeleisen vermißt. Meine Mutter hatte keinen Zweifel, wo es steckte, und fing es sehr schlau an, es wiederzubekommen. Sie sagte zu dem Ehemann, seine Frau hätte sich unser Bügeleisen geborgt; er solle sie doch erinnern, daß sie es wiederbrächte. Daraufhin war es bald wieder zur Stelle. Für die Kinder war es ein großes Unglück, als sie diese Mutter verloren. Der Mann heiratete bald wieder, die zweite Frau behandelte seine Kinder unmenschlich, und er wußte sie nicht dagegen zu schützen. Ein kleines Mädchen hatten wir einmal ein paar Tage bei uns im Hause, weil es bei der Stiefmutter seines Lebens nicht mehr sicher war. Es wurde dann im Kinder-Obdach untergebracht. Seit der zweiten Verheiratung war der Mann auch im Geschäft nicht mehr zu brauchen. Sich alles Brennholz für den häuslichen Gebrauch mitzunehmen, hatte er immer als sein gutes Recht angesehen. Er hatte es offen getan, und meine Mutter hatte es geschehen lassen. Als sie aber erfuhr, daß er heimlich vor und nach der Geschäftszeit für seine Rechnung aus unserm Lager Bretter verkaufte, mußte sie ihn entlassen.
Dagegen ist sein langjähriger Arbeitsgefährte Seidel bis zu seinem Tode bei uns gewesen. Er stammte aus dem schlesischen Gebirge; ein langer, hagerer Mensch, auch lungenschwach. Er war still, fleißig und solide; nur wenn seine Frau ihn von Zeit zu Zeit antrieb, Lohnaufbesserung zu verlangen, trank er sich erst etwas Mut an und verlangte dann barsch sein Buch (zur Entlassung); da man schon wußte, was das bedeutete, kam es immer schnell zu einer gütlichen Einigung. Als wir unser Wohnhaus kauften, zog er mit seiner Familie als Hausmeister in die Giebelwohnung ein. Die Frau war sehr tüchtig in aller Hausarbeit, ihren beiden Kindern eine sehr zärtliche Mutter und eifrig bemüht, etwas »Besseres« aus ihnen zu machen; der übrigen Welt gegenüber nahm sie ihren Vorteil energisch wahr und verfügte dazu über eine scharfe und geschwinde Zunge. Der Mann ging still wie ein guter Geist im Hause umher, um überall nach dem Rechten zu sehen. Wenn er in aller Frühe aufstand, ging er mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinunter (um niemanden, vor allem nicht seine Frau, im Schlaf zu stören) zur Heizung. Tagsüber arbeitete er wie früher auf dem Holzplatz. Er starb in unserm Hause. Die Frau rief uns zu Hilfe, als der Todeskampf kam. Mein Bruder Arno und ich gingen mit ihr (wir beide standen während des Krieges im Dienst des Roten Kreuzes), ich habe ihm die Augen zugedrückt.
Der Holzplatz war das Reich meiner Mutter. Bis der Achtstundentag gesetzlich eingeführt wurde, war das Geschäft geöffnet, solange es Tag war. Nur zu einer kurzen Mittagspause kam sie (und kommt sie noch heute) nach Hause. Eine kleine Holzbude war, so lange das Lager auf der Rosenstraße war, das »Contor«. Als es nach der Elbingstr. – auch noch auf einen gemieteten Platz – verlegt wurde, kaufte man ein etwas größeres, transportables Holzhäuschen. Schließlich konnte es meine Mutter wagen, einen großen eigenen Lagerplatz, der ihr angeboten wurde, zu kaufen. Dort wurde ein fester, gemauerter Schuppen und anschließend ein Contor gebaut. Einen großen Teil des Tages war meine Mutter aber immer im Freien. Sie ging mit den Kunden umher, um die gewünschten Waren auszusuchen, vermaß und berechnete, was ausgesucht war; sie war zugegen und legte mit Hand an, wenn Wagen ausgeladen und die neuen Sendungen eingeräumt wurden; und wenn ein Handwagen mit Brettern – von einem Arbeiter und, in früheren Jahren, von einem großen Hund gezogen – hinausfuhr, half sie von hinten stoßen, bis er zum Tor hinaus war. Auf dem geräumigen, eigenen Grundstück konnte sie es sich auch vergönnen, einen Teil für Gemüse- und Obstbau zu nehmen. Noch heute ist es ihre Freude, sich täglich von dem Wachstum zu überzeugen, und Erdbeeren, Bohnen, Erbsen und Tomaten selbst zu pflücken. Gewiß hat der ständige Aufenthalt in frischer Luft dazu beigetragen, sie bis ins hohe Alter rüstig und frisch zu erhalten. Auch bei bitterer Winterkälte kam sie gewöhnlich mit warmen Händen nach Hause und konnte mir noch die meinen wärmen. Das ist mir immer ein Symbol dafür gewesen, daß alles Leben und alle Wärme im Hause von ihr kam. Aber rechtschaffen müde war sie, wenn sie abends heimkam. Zuerst mußten immer die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Zum Abendessen nahm sie am liebsten nur Tee und Butterbrot. Und wenn nichts Dringendes vorlag, ging sie dann bald zu Bett. Dabei sagte sie gewöhnlich mit großem Behagen: »Das Beste auf der Welt ist mein Bett.« Weil sie selbst die Ruhe so nötig hatte, war es ihr immer schrecklich, jemand andern zu wecken. Sie hat oft gesagt: »Es ist die größte Sünde, einen Menschen im Schlaf zu stören.« Das wirkt bei mir heute noch nach. Wenn ich früh den Kopf aus dem Kissen hob, winkte sie mir gewöhnlich ab: »Bleib, bleib, es ist noch lange Zeit.«
Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt hatte, ließ sie sich sehr gern noch vorlesen. Mit der größten Freude besorgte das mein ältester Bruder, und er war mit solchem Eifer dabei, daß er von Zeit zu Zeit fragte: »Hörst du?« Meine Mutter fuhr dann auf, sagte: »Ja, ja« und schlief sofort wieder ein. Sie träumte sehr lebhaft und sprach oft laut aus dem Schlaf, manchmal so, daß man ganze Zwiegespräche verfolgen konnte. Bis zu meinem 6.Jahre schlief ich bei meiner Mutter; viele von den vorgelesenen Erzählungen, die sie verschlief, habe ich mit angehört, was natürlich keineswegs beabsichtigt war. Das war noch in der Jägerstraße. Die Wohnung bestand dort aus drei großen Zimmern und einem »Kabinett«. Das »gute Zimmer« bewohnte meine Schwester Else. Sie hatte einen Schreibtisch darin und arbeitete oft bis in die Nacht hinein; manchmal löschte ihr meine Mutter die Lampe aus. Ein zweites Zimmer hatten »die Jungen«. »Die Mädel« mußten sich mit dem fensterlosen Kabinett begnügen, das nur von dem Schlafzimmer meiner Mutter Licht und Luft bekam. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie anfangs auch Erna noch bei sich gehabt. Später waren wir beide bei der Mutter untergebracht. In diesem Zimmer stand auch der große Eßtisch.
Zeitweise war das »gute Zimmer« noch an einen Studenten vermietet. Einmal war es ein Jurist, aus guter katholischer Familie. Es war fast unvermeidlich, daß er sich in meine schöne Schwester Else verliebte. Es kam auch zur Verlobung, sie wurde aber wieder gelöst, wohl, weil beide Familien wegen der Glaubensverschiedenheit dagegen waren. Später kam ein lustiger Mediziner, den seine Mutter zu uns brachte, weil sie meine Eltern von Oberschlesien her kannte und ihr Kind gut untergebracht haben wollte. Meine Schwester mußte ihm oft beim Lernen helfen; zum Dank nahm er ihr dann etwas von der häuslichen Arbeit ab, z.B. mich anzuziehen. Ich habe von ihm noch in Erinnerung, daß er immer zu mir sagte: »Edith, du wächst wie ein Kuhschwanz nach unten.« Die Ausdrucksweise mißfiel mir ebenso sehr wie die Anspielung auf meine Kleinheit.
Zu den Abendgeschäften gehörte das »Kassemachen«. Die Losung des Tages mußte festgestellt und in ein Kassenbuch eingetragen werden. Es waren oft Geldrollen dabei, die aufgemacht und nachgezählt werden mußten. Mit solchen Rollen spielte ich gern. Einen Kunden gab es, der gewöhnlich mit Rollen von