3. Species und Individualität beim Menschen und beim Tier
Die Eigenart, die sich in der Körperbildung des Tieres wie in seinem seelischen »Charakter« ausprägt und wohl innerlich in einer eigentümlichen Grundbefindlichkeit gespürt wird, scheint mir die Eigenart der Species zu sein, keine schlechthin individuelle. Das telos, auf das die Entwicklung des Individuums hinzielt, ist wie bei der Pflanze die möglichst vollkommene Ausprägung der Species und ihre Forterhaltung auf dem Wege der Zeugung. Es scheint keine Individualität vorhanden, die als solche Bedeutung hätte. Es sind wohl die Individuen mehr oder minder vollkommene Exemplare der Species und voneinander verschieden. Aber diese Verschiedenheiten erscheinen als etwas »Zufälliges«, d. h. nicht unaufhebbar im Wesen des Tieres begründet. Die Vorstellung einer Mehrheit von völlig gleichen Exemplaren der Species hat nicht etwas so Abnormes, ja Unheimliches, wie die eines menschlichen »Doppelgängers«. Eine andere Bewertung der Individualität als beim Menschen scheint jedenfalls unser theoretisches und praktisches Verhalten den Tieren gegenüber zu beherrschen. Als praktisches Verhalten dürfen wir hier, wenn wir das Entscheidende erfassen wollen, nicht ein Verhalten nehmen, das die Tiere einfach für menschliche Zwecke ausnützt: Der Viehzüchter, der die Schweine oder Ochsen zum Verkauf mästet, ist weder an dem einzelnen Tier noch an der Species als solcher interessiert, sondern nur an den Eigenschaften, die den Marktwert bestimmen. Wir müssen uns als Exempel ein »persönliches« Umgehen mit Tieren vergegenwärtigen, das dem Umgang mit Menschen möglichst nahekommt: Der Hirt kann seine Schafe voneinander unterscheiden, er kennt jedes einzelne mit seinen Eigentümlichkeiten und jedes ist ihm mit diesen Eigentümlichkeiten lieb oder vielleicht auch manchmal lästig; der Hund wird im Hause wie ein Mitglied der Familie behandelt, und man hängt an diesem bestimmten Tier. Wenn diese Einstellung aber so weit geht, daß man das Tier ernstlich wie einen Menschen betrachtet und behandelt, wenn man seinen Verlust als »unersetzlich« betrauert, so erscheint das als Unvernunft, d. h. als Unangemessenheit an das, was sachlich vorliegt. Umgekehrt erscheint es bei menschlichen Beziehungen als Unangemessenheit, einen Menschen durch einen andern zu ersetzen: Das ist wohl möglich auf einem Posten, in einem Amt, in irgendeiner sozialen Stellung – da kann ein Mensch den andern ablösen und seinen Platz (wenn auch mehr oder minder gut) ausfüllen. Aber in dem, was dieser Mensch mir menschlich bedeutet, ist er nicht mit einem andern vertauschbar, wenn auch eine neue menschliche Verbindung über einen Verlust trösten kann. Das sind nur erste Hinweise, die einer tiefer gehenden Analyse als Ansatzpunkte dienen können. Erst diese tiefere Analyse könnte überzeugend dartun, daß hier eine Wesensgrenze zwischen Tierischem und Menschlichem liegt: daß beim Menschen Individualität einen neuen Sinn bekommt, der bei keinem untermenschlichem Geschöpf zu finden ist.
Von daher würde dann auch der Unterschied in der theoretischen Behandlung von Menschen und Tieren begreiflich: daß wir wohl in der Zoologie und Anthropologie parallele Disziplinen haben, die menschliche und tierische Natur, Menschenrassen und Tierspecies allgemein erforschen, aber keine den individualisierenden Geisteswissenschaften entsprechende Wissenschaft vom Tier. Auch eine »Charakterologie« der Tiere, wie wir sie in poetischer Form seit den ältesten Zeiten in der Fabel vorliegen haben, zeichnet die spezifischen Charaktere. Sie tut es meist, um in ihnen bestimmte Menschentypen darzustellen, und gibt sie selbst in vermenschlichter Form. Die Unterlage für die Parallele wie für die Vermenschlichung ist aber die Auffassung gewisser Charaktertypen bei den Tierspecies und ihre Ähnlichkeit mit menschlichen Charaktertypen. Wie weit das Recht einer solchen Parallelisierung geht, das wäre natürlich erst zu entscheiden, wenn man die ontische Struktur hier und dort klar durchschaut hätte. So ist es ein Problem, ob es überhaupt Menschenspecies gibt, die den Tierspecies entsprechen, oder – falls der Mensch als Tierspecies zu fassen wäre – Spielarten der Species Mensch, den Spielarten einer Tierspecies entsprechend. Alle diese Ideen: »Species«, »Typus«, »Spielart«, »Individualität« sind vorläufig nicht geklärt. Ihre Klärung und die Feststellung ihres Verhältnisses zueinander ist dringendes Erfordernis, nicht nur um Tier und Mensch gegeneinander abgrenzen zu können, sondern für das Verständnis aller Bereiche der realen Welt: um die Struktur jedes einzelnen und ihr Verhältnis zueinander zu erkennen. Wir stellen diese Problematik jetzt noch etwas zurück, um rück- und vorblickend den erreichten Standort zu überschauen.
4. Rück- und Ausblick
Wir haben einen Zugang zur tierischen Struktur von der sichtbaren Erscheinung her gewonnen. Wir haben das aufgesucht, was über den gemeinsamen Organismuscharakter hinaus als spezifisch Animalisches im Vergleich zum Pflanzlichen