»Das ist doch Unsinn«, wehrte Dr. Daniel ab. »Ich nehme mir immer Zeit, wenn jemand Hilfe braucht, und mir scheint, Sie haben sie besonders nötig.« Er betrachtete den jungen Mann aufmerksam und entdeckte die dunklen Schatten unter seinen Augen. »Wie lange haben Sie nicht mehr geschlafen?«
Dr. Scheibler zuckte die Schultern. »Seit ein paar Wochen. Ich… ich finde einfach keine Ruhe mehr.« Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr er durch sein dichtes dunkles Haar. »Ich weiß einfach nicht mehr weiter.«
Unwillkürlich kam Dr. Daniel der Verdacht, daß Dr. Scheibler vielleicht ein Mädchen in Schwierigkeiten gebracht hatte. Schließlich wußte er ja, daß der junge Mann kein Kostverächter war, wenn es um das weibliche Geschlecht ging.
»Es erstaunt mich ein bißchen, daß Sie da zu mir kommen«, gestand Dr. Daniel. »Wir kennen uns ja eigentlich nur sehr flüchtig.«
Dr. Scheibler nickte. »Aber Sie kennen Professor Thiersch, und er hält unheimlich viel von Ihnen.«
Überrascht zog Dr. Daniel die Augenbrauen hoch. Er begriff nicht, worauf der junge Arzt hinauswollte.
»Vielleicht wäre es doch am besten, wenn Sie von vorn erzählen würden«, schlug Dr. Daniel vor.
Dr. Scheibler atmete tief durch. »Es geht um Patricia Gerhardt… besser gesagt, sie war der Auslöser für alles. Das heißt… sie konnte ja nichts dafür…«
Dr. Daniel begriff, daß er von Dr. Scheibler heute keinen klaren Gedankengang mehr erwarten konnte. Der junge Arzt schien völlig durcheinander zu sein. Vermutlich war er total übermüdet, und die Wanderung, die er offensichtlich gerade unternommen hatte, mußte ihm den Rest gegeben haben. Entschlossen stand Dr. Daniel auf.
»Sie werden jetzt erst mal ein paar Stunden schlafen, Herr Scheibler«, erklärte er in bestimmtem Ton. »Meine Schwester wird das Gästezimmer für Sie herrichten, und morgen unterhalten wir uns dann in aller Ruhe über die ganze Geschichte.«
Dr. Scheibler schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen, Herr Daniel, und außerdem… ich habe überhaupt nichts dabei.«
»Kein Problem«, entgegnete Dr. Daniel. »Einen Schlafanzug kann ich Ihnen gern leihen. Sie dürften etwa die gleiche Größe haben wie ich. Und eine neue Zahnbürste läßt sich auch besorgen. Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich noch länger dagegen sträuben. Sie brauchen dringend ein paar Stunden Schlaf, und ich werde dafür sorgen, daß Sie ihn auch bekommen.«
Dr. Scheibler sah ein, daß weiterer Widerstand zwecklos war, und wahrscheinlich hatte Dr. Daniel ja auch recht. Er konnte wirklich kaum noch einen klaren Gedanken fassen.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Irene das Bett im Gästezimmer für ihn bezogen hatte. Währenddessen hatte sich Dr. Scheibler im Bad umgezogen und trat jetzt in einem von Dr. Daniels Schlafanzügen herein.
»Im Grunde ist es zwecklos, wenn ich mich ins Bett lege«, meinte er niedergeschlagen. »Schlafen kann ich sowieso nicht.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, entgegnete Dr. Daniel. »In ein paar Minuten werden Sie wie ein Murmeltier schlummern.« Er wies mit einer einladenden Handbewegung zum Bett. »Legen Sie sich hin und drehen Sie sich zur Seite. Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel spritzen, damit Sie ein bißchen zur Ruhe kommen.«
Er trat mit der vorbereiteten Spritze zu Dr. Scheibler und schob die Schlafanzughose ein Stück nach unten.
»Nicht erschrecken, das piekst jetzt ein bißchen«, warnte Dr. Daniel seinen Kollegen, dann injizierte er rasch und geschickt das Beruhigungsmittel. Anschließend setzte er sich noch für ein paar Minuten auf die Bettkante.
»Nun, wie fühlen Sie sich?« wollte er wissen, als er bemerkte, wie Dr. Scheiblers Lider zu flattern begannen.
»Müde«, murmelte der, dann fielen ihm auch schon die Augen zu.
Dr. Daniel betrachtete ihn noch einen Moment, bevor er aufstand und leise das Gästezimmer verließ.
»Seltsam«, meinte er.
»Was ist seltsam?« wollte Irene wissen, die gerade die Treppe heraufkam.
»Daß dieser junge Mann ausgerechnet zu mir kommt«, antwortete Dr. Daniel. »Und daß es auch noch um eine Patientin von mir geht, die mit ihm aber eigentlich nichts zu tun hatte.«
»Meine Güte!« stöhnte Irene. »Du verstehst es aber heute ausgezeichnet, in Rätseln zu sprechen.«
Dr. Daniel lächelte. »Wenn es dich beruhigt, Irenchen, das ganze ist auch für mich ein Rätsel, aber ich denke, morgen werde ich mehr darüber erfahren.«
*
Dr. Daniel, Irene und die fünfzehnjährige Carmen Brück, die seit dem Tod ihres Vaters im Hause Daniel lebte, saßen gerade beim Frühstück, als Dr. Scheibler noch ein wenig schlaftrunken hereinkam. Er hatte einen Morgenmantel angezogen, den er im Bad gefunden hatte, und sah seinen Gastgeber jetzt sichtlich verlegen an.
»Guten Morgen«, grüßte er. »Ich… ich glaube, ich war gestern ziemlich durcheinander.«
Dr. Daniel stand auf und ging ihm entgegen. »Das kann man wohl sagen. Aber jetzt setzen Sie sich erst mal. Möchten Sie auch Kaffee?«
Dr. Scheibler nickte. »Wenn es keine Umstände macht.«
»Überhaupt nicht«, bekräftigte Irene, dann reichte sie dem jungen Mann die Hand. »Irene Hansen«, stellte sie sich vor.
»Gerrit Scheibler«, erwiderte er, dann nahm er an dem großen, runden Tisch Platz und senkte den Kopf. »Es ist mir schrecklich unangenehm, daß ich Ihnen so zur Last falle. Nicht genug damit, daß ich am Freitagabend nach der Sprechstunde noch bei Ihnen hereingeplatzt bin, jetzt störe ich Sie auch noch am Wochenende.«
»Sie stören überhaupt nicht«, entgegnete Dr. Daniel mit Nachdruck. »Mein Sohn zieht es ohnehin wieder einmal vor in München zu bleiben, und meine Tochter hat dieses Wochenende Dienst, und Carmen…« Er lächelte das junge Mädchen neben sich an. »Carmen möchte eine Rad-tour mit Freunden unternehmen. Sie sehen also, daß ich dieses Wochenende von niemandem gebraucht werde.«
Allmählich begann Dr. Scheibler zu verstehen, weshalb Dr. Daniel bei seinen Patientinnen so beliebt war. Er verstand es, seine Hilfsbereitschaft anzubieten ohne aufdringlich zu wirken – und vor allem war er bereit, jedem zu helfen… auch einem beinahe Fremden, wie Dr. Scheibler es war.
Gleich nach dem Frühstück verabschiedete sich Carmen sehr herzlich von Dr. Daniel und seiner Schwester, bevor sie sich auf ihr Rad schwang und den Kreuzbergweg hinunterfuhr. Auch Irene machte sich auf den Weg in den Ort, um noch ein paar Kleinigkeiten einzukaufen.
»So, Herr Scheibler, jetzt sind wir ungestört«, meinte Dr. Daniel, während er es sich mit dem jungen Arzt im Wohnzimmer gemütlich machte. »Und nun erzählen Sie mir bitte, was Sie auf dem Herzen haben.«
Dr. Scheibler seufzte. »Machen Sie sich auf eine schlimme Geschichte gefaßt.« Und dann erzählte er, was nach der Operation von Patricia Gerhardt vorgefallen war. »Sie war so traurig, und sie hat mir so leid getan…« Er senkte den Kopf. »Und
ich wollte auch Oberarzt werden.«
Dr. Daniel nickte. »Ich habe von Anfang an gemerkt, wie ehrgeizig Sie sind. Aber bitte, erzählen Sie weiter.«
»Ich studierte die Krankenakte der Patientin und kam zu dem Schluß, daß Dr. Heller vielleicht doch ein Fehler unterlaufen war – so wie Frau Gerhardt es ja vermutet hatte. Der fehlende Operationsbericht bestärkte mich in meiner Meinung, also bin ich zu Professor Thiersch gegangen.«
Dr. Daniel konnte sich das Ende der Geschichte ausmalen.
»Professor Thiersch hat Sie fristlos entlassen«, vermutete er, »denn Dr. Heller hatte die Operation absolut korrekt durchgeführt.«
»So ähnlich, ja«, antwortete Dr. Scheibler. »Allerdings gab der Professor mir noch Gelegenheit,