Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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Selbständigkeit der ersteren. Das Recht ist Selbstzweck. Das Rechtsbewußtsein wirkt im Vorgang der Entstehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung mit den organisierten Gesamtwillen zusammen. Denn es ist Willensinhalt, dessen Macht in die Tiefe der Persönlichkeit und des religiösen Erlebnisses zurückreicht.

      Die Konzeption des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft, daß dieser Zweckzusammenhang im Recht losgelöst von seinen Beziehungen, insbesondere denen zum Wirtschaftsleben sowie zur äußeren Organisation der Gesellschaft, betrachtet und in eine Region jenseit der geschichtlichen Entwicklung versetzt wurde. So nahmen Abstraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der Gestaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich.

      Der Kern dieser abstrakten Theorien kann nur durch die Methode, welche allen Wissenschaften der Gesellschaft gemeinsam ist, nämlich Verbindung geschichtlicher mit psychologischer Analysis, eine wissenschaftliche Bearbeitung empfangen. An diesem Punkte ist ein weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in die Stellung der Einzelwissenschaften des Geistes zu ihrer Grundlegung zurückführen. Dies Problem, welches sich das Naturrecht stellte, ist nur lösbar im Zusammenhang der positiven Wissenschaften des Rechts. Diese ihrerseits können ein klares Bewußtsein der Stellung der Abstraktionen, durch welche sie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittels einer grundlegenden erkenntnistheoretischen Wissenschaft, vermittels der Feststellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren sie sich bedienen, zu den psychologischen und psychophysischen erhalten. Hieraus folgt, daß es eine besondere Philosophie des Rechts nicht gibt, daß vielmehr ihre Aufgabe dem philosophisch begründeten Zusammenhang der positiven Wissenschaften des Geistes wird anheimfallen müssen. Dies schließt nicht aus, daß Arbeitsteilung und Schulbetrieb es nützlich erscheinen lassen, daß die Aufgabe der allgemeinen Rechtswissenschaft auch in der Form des Naturrechts immer wieder einmal gelöst werde; aber es bestimmt den methodischen Zusammenhang, in dem schlechterdings die Lösung einer solchen Aufgabe stehen muß.

      Und wie könnte nun diese allgemeine Rechtswissenschaft das Recht anders als in seinem lebendigen Zusammenhang mit den Gesamtwillen innerhalb der Organisation der Gesellschaft erkennen? Die Tragweite der Tatsachen der Rechtsüberzeugungen und der mit ihnen verbundenen elementaren psychischen Regungen, des Gewohnheitsrechts, des Völkerrechts kann nur so weit reichen, die Existenz eines Bestandteils in der menschlichen Natur zu erweisen, auf welchem der Charakter des Rechts als eines Selbstzwecks beruht. Diese Beweisführung wird eine wichtige Ergänzung durch die historische Erörterung der Beziehungen von Rechtsbegriffen und Rechtsinstituten zu religiösen Ideen erhalten, welche wir an den auffaßbaren Anfängen unserer Kultur gewahren. Aber – das ist die andere Seite dieses Verhältnisses von Recht und Staat – keine Argumentation kann die Tragweite haben, die Existenz eines von der äußeren Organisation der Gesellschaft unabhängigen tatsächlichen Rechts zu erweisen. Die Rechtsordnung ist die Ordnung der Zwecke der Gesellschaft, welche von der äußeren Organisation derselben durch Zwang aufrechterhalten wird. Und zwar (S. 77- 78) bildet der Zwang des Staats (das Wort in dem S. 77 entwickelten allgemeinen Verstande genommen) den entscheidenden Rückhalt der Rechtsordnung; aber äußere Bindung der Willen sahen wir durch die ganze organisierte Gesellschaft verbreitet (S. 67 ff.), und so erklärt sich, daß in dieser auch andere Gesamtwillen neben dem Staat Recht bilden und aufrechterhalten. Jeder Rechtsbegriff enthält also das Moment der äußeren Organisation der Gesellschaft in sich. Andererseits kann jeder Verband nur in Rechtsbegriffen konstruiert werden. Dies ist ebenso wahr, als daß das Verbandsieben der Menschheit nicht aus dem Bedürfnis der Rechtsordnung erwachsen ist und daß der Staatswille nicht erst mit seinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtsein geschaffen hat.

      So wird die andere Seite des Verhältnisses zwischen Rechts- und Staatswissenschaften sichtbar: jeder Begriff in jenen kann nur vermittels der Begriffe in diesen entwickelt werden und umgekehrt.

      Die Untersuchung der beiden Seiten des Rechts in der allgemeinen Rechtswissenschaft führt zu einem noch allgemeineren Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweckzusammenhang, welchen das Recht enthält, hat sich vermittels der einzelnen Gesamtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker, sonach geschichtlich entwickelt. Der Gegensatz des 18. Jahrhunderts, welches die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in einen Inbegriff von natürlichen Systemen auflöste, die den Einwirkungen des geschichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der historischen Schule des 19. Jahrhunderts, welche sich dieser Abstraktion entgegensetzte, aber, trotz ihres höheren Standpunktes, infolge des Mangels einer wahrhaft empirischen Philosophie eine in Begriffen und Sätzen klare und so verwertbare Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grundlegung der Geisteswissenschaften aufgehoben werden, welche den Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegenüber dem Empirismus durchführt. Von einer solchen Grundlegung aus können die Probleme, die am Recht hervortreten, sich einer Auflösung nähern: Fragen, die mit der Menschheit selber herangewachsen sind, welche schon im 5. Jahrhundert vor Christo die Geister beschäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz in verschiedene Heerlager teilen, andere Fragen, welche heute zwischen dem Geiste des 18. und dem des 19. Jahrhunderts schweben.

      Jenseit dieser Wurzeln der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenlebens treten dann Systeme und Verbände deutlicher auseinander. Die Religion, als ein System des Glaubens, ist in solchem Grade von dem Verbande ablösbar, in welchem sie wohnt, daß ein hervorragender und gläubiger Theologe der letzten Generation die Angemessenheit von kirchlichen Verbänden an unser gegenwärtiges christliches Leben in Abrede stellen konnte. In Wissenschaft und Kunst erreicht aber die Koordination von selbständigen Einzeltätigkeiten einen solchen Grad von Ausbildung, daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche sich zur Verwirklichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Zwecke gebildet haben, ganz zurücktritt; dementsprechend entwickeln die Wissenschaften, welche diese Systeme zum Gegenstand haben, Ästhetik und Wissenschaftslehre, ihr Objekt, ohne je solcher Verbände zu gedenken.

      Solchergestalt hat eine ihrer selbst unbewußte Kunst der Abstraktion mit zunehmender Klarheit diese beiden Klassen von Wissenschaften voneinander gesondert. Dies tat sie, obwohl naturgemäß die Vorbildung des einzelnen, seine Tätigkeit an den Verbänden das Studium des Systems mit dem des Verbandes verknüpfte.

      Aus diesen Darlegungen über das Verhältnis des Verbandes zum System entspringt schließlich eine methodisch wichtige Folgerung in bezug auf die Natur der Wissenschaften, welche die äußere Organisation der Menschheit zu ihrem Objekt haben.

      Die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft haben sowenig als die von den Systemen der Kultur die konkrete Wirklichkeit selber zu ihrem Gegenstande. Alle Theorie erfaßt nur Teilinhalte der komplexen Wirklichkeit; die Theorien des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens scheiden die unermeßlich verwickelte Tatsächlichkeit, der sie sich nähern, um in sie einzudringen. So hebt die Wissenschaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den Verband als Gegenstand heraus. Eine Gruppe von Individuen, die in einem Verbande verknüpft ist, geht niemals in diesem gänzlich auf. In dem modernen Leben ist in der Regel ein Mensch Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach untergeordnet sind. Aber auch wenn ein Mensch nur einem Verbande angehörte: sein ganzes Wesen geht doch in denselben nicht ein. Denkt man sich den ältesten Familienverband, so hat man den elementaren sozialen Körper vor sich, die konzentrierteste Form von Willenseinheit, die unter Menschen denkbar ist. Und doch ist auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Individuen, aus denen sie sich zusammenfügt, gehen nicht gänzlich in sie als in ihre Einheit auf. Das, was die Anschauung als Land, Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt und so als eine volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutschland oder Frankreich vorstellt, ist nicht der Staat, ist nicht der Gegenstand der Staatswissenschaften. So tief auch die starke Hand des Staats in die Lebenseinheit des Individuums, dieses an sich reißend, greift: der Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur teilweise, nur relativ: Etwas in ihnen ist, das nur in der Hand Gottes ist. So vieles auch die Staatswissenschaften von den Bedingungen dieser Willenseinheit einbegreifen: direkt haben sie es nur mit einer in der Abstraktion allein darstellbaren Teiltatsache zu tun, und von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden Menschen bilden, lassen sie einen Rückstand von sehr großer Erheblichkeit zurück. Die Staatsgewalt selber umfaßt nur ein bestimmtes dem Staatszweck unterworfenes