Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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aber das ihm notwendige Machtübergewicht nur durch seine Organisation und durch die Mitwirkung von psychologischen Motiven empfängt.26

      Innerhalb der äußeren Organisation ist neuerdings vom Staat die Gesellschaft (das Wort in einem engeren Verstände gefaßt) unterschieden worden.

      Das Studium der äußeren Organisation der Gesellschaft hat, seitdem es in Europa auftrat, seinen Mittelpunkt in der Staatswissenschaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechischen Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche das Fundament dieser Wissenschaft gelegt haben. Wohlbestanden damals noch die Phylen und Phratrien einerseits, die Demen andererseits, als die Reste der alten Geschlechter- und Gemeindeordnungen, besaßen Rechtspersönlichkeit und Vermögen, neben ihnen bestanden auch freie Genossenschaften. Aber im positiven Rechte Athens scheint27 zwischen dem Beschluß einer Korporation und der Abrede für eine gemeinsame Handelsunternehmung kein Unterschied bestanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von koinônia wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterscheidung wie die römische zwischen universitas und societas hatte sich nicht herausgebildet. Aristoteles formuliert daher nur das Ergebnis der griechischen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff der koinônia in seiner Politik ausgeht, das genetische Verhältnis entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband (kômê), von diesem zum Stadtstaat (polis) führt, alsdann aber den Dorfverband, als ein Stadium von nur geschichtlichem Interesse in seiner politischen Theorie selber verschwinden läßt und den freien Genossenschaften keine Stelle in seinem Staate zuteilt. War doch im griechischen Leben in der Herrschaftsordnung des Stadtstaates alles Verbandsieben untergegangen. – Es entwickelten sich dann weitere Bestandteile einer Theorie der äußeren Organisation der Gesellschaft in der Rechtswissenschaft, in der kirchlichen Wissenschaft: am hellen Tage der Geschichte sehen wir den größten Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholische Kirche, heranwachsen und in theoretischen Formeln seine Natur aussprechen, aus ihr heraus seine Rechtsordnung sich schaffen.

      Die europäische Gesellschaft zeigte nach der Französischen Revolution ein ganz neues Phänomen, als sozusagen die Hemmungsapparate, welche in ihrer früheren äußeren Organisation zwischen den starken Leidenschaften der arbeitenden Klassen und der die Eigentums- und Rechtsordnung aufrechterhaltenden Staatsmacht bestanden hatten, nunmehr größtenteils weggefallen waren und das rapide Wachstum der Industrie und der Verkehrsverbindungen eine täglich anwachsende Masse von Arbeitern, durch Interessengemeinschaft über die Grenzen der Einzelstaaten hinaus verbunden, durch den Fortschritt der Aufklärung ihrer Interessen immer deutlicher bewußt, der Staatsmacht gegenüberstellte. Aus der Auffassung dieser neuen Tatsache entsprang der Versuch einer neuen Theorie, der Gesellschaftswissenschaft. In Frankreich bedeutete Soziologie die Ausführung der gigantischen Traumidee, aus der Verknüpfung aller von der Wissenschaft gefundenen Wahrheiten die Erkenntnis der wahren Natur der Gesellschaft abzuleiten, auf Grund dieser Erkenntnis eine neue, den herrschenden Tatsachen der Wissenschaft und Industrie entsprechende äußere Organisation der Gesellschaft zu entwerfen sowie vermittels dieser Erkenntnis die neue Gesellschaft zu leiten. In diesem Verstände hat während der gewalttätigen Krisen in der Wende des Jahrhunderts der Graf Saint-Simon den Begriff der Soziologie entwickelt. Sein Schüler Comte hat die angestrengte Arbeit eines ganzen Lebens mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem systematischen Aufbau dieser Wissenschaft gewidmet.

      In der Rückwirkung auf diese Arbeiten, unter dem Einfluß derselben Lage der Gesellschaft entstand in Deutschland der Begriff und Versuch einer Gesellschaftslehre.28 In gesundem, wissenschaftlich positivem Sinn, unternahm sie nicht, die Staatswissenschaften durch ein Ganzes von ungeheueren Dimensionen zu ersetzen: sie wollte sie ergänzen. Das Unzureichende des abstrakten Staatsbegriffs war, seit den ersten Blicken von Schlözer, durch die historische Schule immer deutlicher zum Bewußtsein gekommen, diese hatte die Tatsache des Volkes durch ihre Arbeiten in einer ganz neuen Tiefe gesehen. Hegel, Herbart, Krause wirkten in derselben Richtung. Es kann nicht bestritten werden, daß man, von dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortschreitend, zwischen beiden ein weites Reich von Tatsachen antrifft, welche dauernde Beziehungen dieser Individuen aufeinander und die Welt der Güter enthalten. Der Staatsmacht stehen die Individuen nicht als isolierte Atome gegenüber, sondern als ein Zusammenhang. Im Sinne unserer bisherigen Darlegungen wird man weiter anerkennen müssen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familiengliederung und der Niederlassung, im Ineinandergreifen der Tätigkeiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine Organisation entsteht, welche der Staat von Anfang an trägt und ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie sie ist, in den Zusammenhang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk und Gesellschaft haben zu dieser Tatsache eine augenscheinliche Beziehung.

      Die Frage nach der Existenzberechtigung einer besonderen Gesellschaftswissenschaft ist nicht die über die Existenz dieser Tatsache, sondern über die Zweckmäßigkeit, sie zum Gegenstand einer besonderen Wissenschaft zu machen. – Im ganzen gleicht die Frage, ob irgendein Teilinhalt der Wirklichkeit geeignet sei, von ihm aus bewiesene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob ein Messer, das vor mir liegt, scharf sei. Man muß schneiden. Eine neue Wissenschaft wird konstituiert durch die Entdeckung wichtiger Wahrheiten, aber nicht durch die Absteckung eines noch nicht okkupierten Terrains in der weiten Welt von Tatsachen. Das muß gegen den Entwurf Robert von Mohls Bedenken erregen. Dieser geht davon aus, daß zwischen Einzelperson, Familie, Stamm und Gemeinde29 einerseits, dem Staat andererseits, gleichförmige Beziehungen und infolgedessen bleibende Gestaltungen einzelner Bestandteile der Bevölkerung sich befinden: solche werden durch die Gemeinschaft der Abstammung von bevorzugten Familien, die Gemeinschaft der persönlichen Bedeutung, der Verhältnisse des Besitzes und Erwerbs sowie der Religion gebildet. Ob auf Grund dieser Abgrenzung eines Tatbestandes eine »allgemeine Gesellschaftslehre, d.h. Begründung des Begriffs und der allgemeinen Gesetze«30 der Gesellschaft notwendig sei, würde nur durch die Auffindung dieser Gesetze bewiesen werden können. Jede andere Art von Erörterung scheint kein Ergebnis zu versprechen. – In vieljähriger Arbeit hat Lorenz von Stein versucht, einen solchen Zusammenhang von Wahrheiten zu entwickeln; was er anstrebt, ist eine wirkliche erklärende Theorie, welche zwischen die Güterlehre31, in der letzten Fassung: zwischen die Erkenntnis der wirtschaftlichen Tätigkeit, der Arbeit des Gottesbewußtseins und der Arbeit des Wissens32 einerseits und die Staatswissenschaft andererseits treten soll. Übertragen wir das in den hier entwickelten Zusammenhang, so wäre diese Wissenschaft das Bindeglied zwischen den Wissenschaften von den Systemen der Kultur und der Staatswissenschaft. Die Gesellschaft ist ihm, dementsprechend, eine dauernde und allgemeine Seite in allen Zuständen der menschlichen Gemeinschaft, ein wesentliches und machtvolles Element33 der ganzen Weltgeschichte. Erst wenn wir an einer späteren Stelle seine tiefgedachte Theorie einer logischen Prüfung unterwerfen, kann die Frage entschieden werden, ob die von ihm entwickelten Wahrheiten zur Absonderung einer Gesellschaftslehre berechtigen.

      Auch an diesem Punkte tritt die Notwendigkeit einer erkenntnis-theoretischen und logischen Grundlegung hervor, welche das Verhältnis der abstrahierten Begriffe zu der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, deren Teilinhalte sie sind, aufklärt. Denn bei den Staatsgelehrten macht sich die Neigung bemerkbar, die Gesellschaft als eine für sich bestehende Wirklichkeit zu betrachten. Will doch Mohl die Gesellschaft geradezu als »ein wirkliches Leben, einen außer dem Staate stehenden Organismus«34 verstanden wissen, als ob irgendeiner ihrer Lebenskreise außerhalb der alleserhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat geschaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm selber zu ihren Merkmalen gehört. Stein konstruiert gesellschaftliche Ordnungen und Verbände und läßt dann über sie im Staat sich die Einheit in absoluter Selbstbestimmung zur höchsten Form allgemeiner Persönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Gesellschaft und Staat einander als Mächte gegenübertreten, so kann der Empiriker dem doch nur die Unterscheidung der zu einer gegebenen Zeit bestehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrschaftssphäre befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, sondern in einem eigenen System von Beziehungen stehenden freien Kräfte unterlegen. In einer theoretischen Betrachtung über die Kräfteverhältnisse im politischen Leben kann man so gut als das Kräfteverhältnis zwischen Staatseinheiten auch das zwischen der Staatsmacht und den freien Kräften ins Auge fassen. Aber Gesellschaft in diesem Verstande faßt auch Reste älterer staatlicher Ordnungen in sich, sie setzt sich nicht wie die Gesellschaft Steins aus Beziehungen von einer bestimmten Provenienz