Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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Leben« als den Schlußteil desselben von der Soziologie getrennt. So ist unumgänglich, diese Instanz gegen die vorliegende Vorstellung ins Auge zu fassen.

      In der Tat existiert ein System der Sittlichkeit, mannigfach abgestuft, in langer geschichtlicher Entwicklung erwachsen, örtlich vielfach selbständig geartet, in einer Vielfachheit von Formen ausgeprägt: eine nicht minder mächtige und wahrhafte Realität als Religion oder Recht. Sitte, als die Regel, das Wiederkehrende, die Form des Stetigen und Allgemeinen in Handlungen, bildet nur die neutrale Grundlage, die sowohl den Erwerb aufgefundener Zweckmäßigkeit des Handelns, das unter möglichst geringem Widerstand sein Ziel erreichen will, in sich faßt, als den angesammelten Reichtum von Maximen der Sittlichkeit, selbst eine Seite des Gewohnheitsrechts, nach welcher es den Inbegriff gemeinsamer Rechtsüberzeugungen umfaßt, sofern sie durch Übung sich als beherrschende Macht über die einzelnen manifestieren. Wie denn Ulpian die mores definiert als tacitus consensus populi, longa consuetudine inveteratus.16 Die Sitte grenzt sich nach Völkern und Staaten deutlich ab. Dagegen bildet die Sittlichkeit ein einziges Idealsystem, das durch den Unterschied von Gliederungen, Gemeinschaften, Verbänden nur modifiziert wird. Die Erforschung dieses Idealsystems vollzieht sich in der Verbindung psychologischer Selbstbesinnung mit der Vergleichung seiner Modifikationen bei verschiedenen Völkern, für welche von allen Geschichtschreibern Jakob Burckhardt den tiefsten Blick gezeigt hat.

      Dieses System der Sittlichkeit besteht nicht in Handlungen der Menschen, ja kann nicht einmal an diesen zunächst studiert werden, sondern es besteht in einer bestimmten Gruppe von Tatsachen des Bewußtseins und demjenigen Bestandteil der menschlichen Handlungen, welcher durch sie hervorgebracht wird. Wir suchen zunächst diese Tatsachen des Bewußtseins in ihrer Vollständigkeit aufzufassen. Das Sittliche ist in einer doppelten Form vorhanden, und die beiden Gestalten, in denen es erscheint, wurden Ausgangspunkte für zwei einseitige Schulen der Moral. Es ist da als Urteil des Zuschauers über Handlungen und als ein Bestandteil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (sonach der Zweckmäßigkeit derselben) unabhängigen Gehalt gibt. Es ist in beiden Gestalten dasselbe. In der einen erscheint es als in der Motivation lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Handlungen anderer Individuen in unparteiischer Billigung oder Mißbilligung reagierende Kraft. Dieser wichtige Satz kann folgendermaßen bewiesen werden. In jedem Fall, in welchem ich mich als Handelnder unter der Nötigung einer moralischen Verbindlichkeit befinde, läßt sich diese in demselben Satz ausdrücken, welcher meinem Urteil als Zuschauer zugrunde liegt. Indem die Ethik bisher immer eine von beiden Gestalten zugrunde legte, Kant und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft, die hervor ragenden englischen Moralisten und Herbart als eine von außen gegen die Handlungen anderer reagierende Kraft: gingen sie der allseitigen, ganz gründlichen Einsicht verlustig. Denn Beifall und Mißfallen des Zuschauers enthalten das Sittliche zwar ungesondert (ein unschätzbarer Vorteil), aber in abgeblaßter Form. Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen Inhalt des Geistes, wie sie in den sittlichen Kämpfen des Handelnden mit solcher Gewalt an das Licht gebracht wird, ist hier ganz abgeschwächt. Wo andererseits das Sittliche in der Motivation selber zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, ist die Analyse sehr schwierig. Denn nur der Zusammenhang zwischen Motiv und Handlung ist uns in klarem Bewußtsein gegeben; die Motive aber treten auf eine uns rätselhafte Weise hervor. Daher ist der Charakter des Menschen diesem selber ein Geheimnis, welches ihm nur seine Handlungsweise teilweise sichtbar macht. Durchsichtigkeit des Zusammenhangs von Charakter, Motiv und Handlung eignet den Gestalten des Dichters, nicht der Anschauung des wirklichen Lebens, und so liegt auch das Ästhetische in der Erscheinung des wirklichen Menschen darin, daß über seinen Handlungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender als über denen der anderen Menschen liegt.

      In dieser Doppelgestalt durchwirkt nun das sittliche Bewußtsein in einem unendlich verzweigten Spiel von Wirkungen und Reaktionen die ganze beseelte Gesellschaft. Dem Entwickelten entsprechend kann das Bewegende in ihm in zwei Formen von Kräften zerlegt werden. Es wirkt zunächst direkt, als Ausbildung eines moralischen Bewußtseins und unter seinem Antrieb stehende Regelung der Handlungen. Alles, was das Leben für den Menschen lebenswert macht, ruhet auf dem Grunde des Gewissens: denn wer Gefühl seiner Würde hat und darum dem, was sonst sich wandeln kann, gefaßt ins Auge blickt, bedarf doch dieses Fundamentes nicht nur bei sich, sondern auch bei denen, die er liebt, um leben zu können. Die andere Form von psychologischer Kraft, durch welche das sittliche Bewußtsein in der Gesellschaft wirkt ist indirekt. Das moralische Bewußtsein, das sich in der Gesellschaft ausbildet, wirkt als ein Druck auf den einzelnen. Gerade hierauf ist es gegründet, daß Sittlichkeit als ein System über den weitesten Umkreis der Gesellschaft herrscht und sich die mannigfachsten Beweggründe in ihr unterwirft. Sklaven gleich, dienen gezwungen dieser Macht des sittlichen Systems auch die niedrigsten Motive. Die öffentliche Meinung, das Urteil der anderen Menschen, die Ehre: diese sind die starken Bänder, welche die Gesellschaft da zusammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, versagt. Und wenn ein Mensch auch ganz überzeugt wäre, daß die Mehrzahl der ihn Verurteilenden ganz so handeln würde, als er selber gehandelt hat, falls sie nur dem Urteil der Welt sich dabei zu entziehen vermöchten: auch dies hebt den Bann nicht auf, unter dem seine Seele steht, wie das Raubtier unter dem Bann der Augen eines mutigen Menschen, wie der Verbrecher unter dem Bann der hundert Augen des Gesetzes. Will er dieser Totalmasse der öffentlichen sittlichen Meinung sich wirklich entziehen, so erträgt er nur dann die Wucht ihres Anpralls, wenn er zusammensteht mit anderen, in einer anderen Atmosphäre von öffentlicher Meinung, welche ihn trägt. Diese regulierende Gewalt des sittlichen Gesamtgewissens bewirkt andererseits im Beginn der persönlichen Entwicklung sowie für die nicht sittlich selbständig Fühlenden, ja im einzelnen schließlich auch für die sittlich Höchststehenden die Übertragung des Gesamtergebnisses der sittlichen Kultur, welches niemand in jedem Moment des bewegten Lebens ganz selbständig in seinen mannigfachen Verzweigungen in sich hervorzubringen vermöchte.

      So bildet sich in der Gesellschaft ein selbständiges System der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den äußeren Zwang angewiesen ist, reguliert es mit einer Art von innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat sonach in den Geisteswissenschaften nicht ihre Stelle als bloßer Inbegriff von Imperativen, der das Leben des einzelnen regelt, sondern ihr Gegenstand ist eines der großen Systeme, welche im Leben der Gesellschaft ihre Funktion haben.

      An den Zusammenhang dieser Systeme, welche in direkter Weise Zwecke verwirklichen, die in den Bestandteilen der menschlichen Natur angelegt sind, schließen sich die Systeme von Mitteln, welche in dem Dienste der direkten Zwecke des gesellschaftlichen Lebens stehen. Ein solches System von Mitteln ist die Erziehung. Aus den Bedürfnissen der Gesellschaft entstanden die einzelnen Schulkörper, als Leistung von Privatpersonen sowie von Verbänden, aus unscheinbaren Anfängen: differenzierten sich, traten in Verbindung untereinander, und nur allmählich, nur teilweise wurde das Erziehungswesen in den Zusammenhang der Staatsverwaltung selber aufgenommen.

      Diese Systeme erlangen in der Gesellschaft vermöge der beständigen Anpassung einer Einzeltätigkeit in ihnen an die andere sowie vermöge der einheitlichen Zwecktätigkeit der zu ihnen gehörigen Verbände eine allgemeine Anpassung ihrer Funktionen und Leistungen aneinander, welche ihrer inneren Beziehung gewisse Eigenschaften eines Organismus gibt. Die menschlichen Lebenszwecke sind Bildungskräfte der Gesellschaft, und wie vermittels ihrer Gliederung die Systeme auseinandertreten: bilden diese Systeme untereinander eine entsprechende Gliederung höherer Ordnung. Der letzte Regulator dieser vernünftigen Zwecktätigkeit in der Gesellschaft ist der Staat.

      XIII. Die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft

       Inhaltsverzeichnis

       Die psychologischen Grundlagen

      Von diesen Wissenschaften, welche die Systeme der Kultur sowie die in diesen Systemen ausgebildete Inhaltlichkeit zum Objekte haben, sie in geschichtlichem Erfassen, in Theorie und Regelgebung erforschen, trennte ein überall gleichförmig durchgeführter Vorgang von Abstraktion die anderen Wissenschaften, deren Gegenstand die äußere Organisation der Gesellschaft ist.