Dann passierte es. Wie der dünne Stil einer zarten Blüte im Wind bog sich Nicole zur Seite. Und in der Sekunde, als noch alle davon ausgingen, diese Bewegung würde zur Rolle gehören, verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin. Sie blieb liegen, zu ungraziös, als dass man weiterhin hätte davon ausgehen können, dass diese Figur zur Choreografie gehört hätte. Das Orchester spielte ein paar Lidschläge lang weiter. Die anderen Tänzer auf der Bühne verharrten in ihren Bewegungen. Alle hielten den Atem an. Dann wurde Gemurmel laut. Nicoles Tanzpartner löste sich vom Rand der Bühne und lief auf Nicole zu. Da stand auch schon Matthias auf. Von der ersten Reihe waren es nur wenige Schritte bis zu der offensichtlich Ohnmächtigen. Die Musik hörte auf.
Jemand rief: »Vorhang zu!«
Matthias kniete sich neben Nicole. »Ich bin Arzt«, sagte er zu den Künstlern, die im Bogen um ihn und seine Patientin herum standen. »Holen Sie die Sanitäter von draußen. Sie braucht Sauerstoff und Flüssigkeit.«
Nicoles Gesicht hatte eine gräuliche Farbe. Ihre Haut fühlte sich kalt an, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ihr Herzschlag ging schnell und flach. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Ihr Pulsschlag war nur noch leicht zu spüren. Dann verlor er ihn ganz. Nicole hörte auf zu atmen. Sofort begann er mit der Wiederbelebung. Dafür legte er seine Handflächen auf Nicoles Brust, die sich so mager anfühlte, als könnte sie unter den kräftigen Stößen brechen. Er verschränkte die Hände und fing an zu massieren.
Nach vorn beugen, entspannen, wiederholte er. Nach vorn beugen, entspannen. Sein Gesicht rötete sich, er begann zu schwitzen.
Komm zurück, sagten seine Hände. Komm zurück.
Und dann spürte er Nicoles Atem wieder. Da kamen auch schon der Notarzt und die Sanitäter mit der Trage angelaufen. Sie legten die junge Frau, die nun das Bewusstsein wiedererlangt hatte, darauf, der Notarzt untersuchte sie und nickte Matthias zu.
»Gut gemacht. Wir bringen sie nach draußen in den Rettungswagen.«
»Ich gehe mit.«
Sein Kollege hob die Brauen.
»Brunner. Dr. Brunner. Ich bin Arzt. Und ich kenne Frau Konzack sehr gut.«
Er schaute auf Nicole hinunter, die ihn nun ansah.
»Sie?«, hauchte sie.
Da wurden schwere Schritte auf der Bühne laut. Daniel kam gelaufen. Jeder sah ihm verwundert oder sogar empört entgegen. Doch er schien niemanden wahrzunehmen. Er fiel neben der Trage auf die Knie und griff nach Nicoles Händen. Der Notarzt wollte einschreiten, doch Dr. Brunner hielt ihn zurück.
»Lassen Sie Herrn Geißle bitte mitkommen. Er ist ihr …« Tja, was war Daniel heute noch für Nicole? »Ihr Verlobter«, sprach er den Satz hastig zu Ende.
*
Daniel?, dachte Nicole benommen und unendlich kraftlos. Wie konnte das sein? Wo kam er her? War er nur ein Wunschbild ihrer Träume oder tatsächlich an ihrer Seite, als die Leute in den roten Jacken sie von der Bühne nach draußen trugen?
Immer wieder drohte ihr Bewusstsein wegzugleiten. Sie nahm alles nur wie durch Watte wahr; gedämpfte Geräusche, verlangsamte Bewegungen. Wie ein Film lief das Geschehen vor ihr ab: Die Sauerstoffmaske, das Blutdruckmessgerät, Infusionen, die gelegt wurden. Doch immer wieder versuchte sie, die Augen zu öffnen. Ihr Blick suchte Daniel, ohne ihn zu finden. Sie erfasste nur, dass sie sich in einem Rettungswagen befand. Dann erklang das Martinshorn, Türen schlugen zu, der Wagen setzte sich in Bewegung. Und jetzt ergriff jemand ihre Hand. Sie schlug die Lider auf, schaute geradewegs in ein braunes Augenpaar.
»Nicole, Liebes …?« Daniels Gesicht hing dicht über ihrem.
»Du?« Es fiel ihr schwer, allein dieses eine Wort auszusprechen. Und noch schwerer, ihre Hand zu heben, um den geliebten Mann zu berühren.
Saß er leibhaftig hier neben ihr?
»Ich war in der Vorstellung. Mit Dr. Brunner und seiner Frau«, hörte sie ihn sagen.
Nicoles Blick glitt über sein Gesicht, das sie so oft voller Inbrunst geküsst hatte.
»Ich habe es nicht geschafft«, sagte sie so leise, dass Daniel sein Ohr an ihre Lippen halten musste, um sie zu verstehen. »Wieder ein Zusammenbruch.«
Er richtete sich auf.
»Das wird der letzte sein«, erwiderte er so energisch und laut, das einer der Sanitäter ihn verdutzt ansah. Schnell beugte er sich wieder zu Nicole hinunter, senkte seine Stimme. »Bitte hör auf mit dem Tanzen. Geh nicht weiter in dieser Art mit dir selbst um.« Mit all der Liebe und Zärtlichkeit, die er für sie empfand, strich er ihr über die Wange. »Komm zurück zu mir. Lass uns die Träume leben, die wir zusammen geträumt haben.«
Nicole hatte seine Worte gehört, doch sie wollten nicht in ihren Verstand dringen.
Zu Daniel zurückkommen?
»Und Katja?« Die Frage kam wie von selbst über ihre Lippen. Die Szene, die sie beobachtet hatte, hatte sich viel zu tief in ihrem Bewusstsein festgesetzt, als dass sie sie selbst in einer Situation wie dieser hätte vergessen können.
Der Ausdruck von Unverständnis legte sich auf Daniels Züge.
»Katja?«, fragte er wieder etwas lauter, sodass die beiden Sanitäter einen bedeutungsvollen Blick miteinander wechselten. Die beiden jungen Männer spürten, dass sie gerade, wenn auch unfreiwillig, Zeuge einer Unterhaltung wurden, die zwei Menschen besser allein führen sollten.
»Ich habe euch gesehen«, brachte Nicole stoßweise hervor. »In Umarmung.«
Daniel fasste sich an den Kopf. Er begriff, dass es ein Missverständnis zwischen ihm und Nicole geben musste. Welches, das konnte und wollte er in diesem Moment nicht klären. Er ahnte nur, dass Katja etwas damit zu tun haben musste, dass Nicole ihn verlassen und sich wieder in ihre Arbeit gestürzt hatte.
Er schluckte und sagte in eindringlichem Ton ganz nah an Nicoles Ohr: »Komm nach Ruhweiler zurück und heirate mich. Ich werde für dich sorgen, ohne dir jemals das Gefühl zu nehmen, stets unabhängig zu sein. Das verspreche ich dir.«
Da schloss die junge Frau die Augen. Sie sah den Streif an dem bisher so dunklen Horizont, konnte jedoch noch gar nicht glauben, dass dieses Licht für sie bestimmt war. Daniel liebte sie?
»Über Katja reden wir später. Vertrau mir und sag ›Ja‹, bat Daniel sie.
In diesem Moment hielt der Wagen an, das Martinshorn verstummte. Sie waren vor dem Krankenhaus angekommen.
Da begann Nicole zu lächeln, mit letzter Kraft drückte sie Daniels Hand, die ihre immer noch hielt. Schließlich sagte sie leise: »Ich gebe dir alle Jas, die ich in meinem Herzen habe.«
Die Sanitäter ließen Daniel gerade noch so viel Zeit, dass er die geliebte Frau sacht auf die Lippen küssen konnte. Dann brachten sie Nicole in die Klinik hinein.
*
Wie an so manchen schönen Sommerabenden saß der Landarzt auf der Terrasse und begrüßte die hereinbrechende Dämmerung mit einem Glas Glottertaler. Lump lag unterm Tisch zu seinen Füßen. Er schnarchte zufrieden. Um die beiden herum zirpten die Grillen. Ein paar freche Spatzen kamen geflogen. Sie pickten ein paar Brotkrümel auf, die vom Abendessen übrig geblieben waren.
Matthias schaute hinüber zu den in weinfarbenem Abenddunst verschmelzenden Hanglinien am Horizont. Der Himmel verfärbte sich violett, als die Sonne hinter ihnen verschwand. Aus dem Wohnzimmer drang Klaviermusik zu ihm hinaus, zu der er seine Gedanken schweben ließ. Irgendwann verstummte das Klavier. Kurze Zeit später trat seine Frau zu ihm. Er umarmte sie, zog sie an sich, und ihr Schatten verschmolzen zu einem. Eng umschlungen, das Farbenspiel am Himmel betrachtend, blieb das Arztehepaar stehen.
»Übrigens, das habe ich dir noch gar nicht erzählt«, sagte Ulrike nach einer Weile