»Viele Patienten.« Matthias küsste seine Frau auf die Nasenspitze. »Unter anderem auch Daniel.«
»Ist er krank?«
Er lächelte matt und seufzte. »Psychosomatisch. Daniel leidet unter der Trennung von Nicole. Die typischen Anzeichen. Appetitlosigkeit, Abgeschlagenheit, weil er nicht schlafen kann, Kopfschmerzen, Magenprobleme. Das ganze Programm.«
Betroffen sah seine Frau ihn an. »Was hast du ihm verschrieben?«
»Nichts, mein Schatz. Gegen Liebesleid gibt es keine Medizin. Wir haben eine Weile geredet, aber leider sind auch alle gut gemeinten Worte in einer solchen Situation kein Trost.«
Ulrike senkte den Kopf. »Er tut mir so leid.«
»Mir auch, das kannst du mir glauben.« Er legte den Arm um sie. »Ich habe übrigens mit Thorsten telefoniert.«
»Mit Thorsten?« Seine Frau machte große Augen. »Er ist doch zurzeit in Japan.«
»Na und? Sein Handy funktioniert auch dort.«
»Und? Wie geht es ihm?«
»Sehr gut, was ich sehr beruhigend finde.«
Ulrike schmiegte sich an ihn und schlang die Arme um seine Mitte.
»Ich auch«, sagte sie leise in dankbarem Ton. »Thorsten ist unter einem guten Stern geboren.« Dann ließ sie ihn wieder los und sah ihn an. »Warum hast du ihn denn angerufen?«
»Er hat mir den Namen von Nicoles Agenten gesagt. Vielleicht weiß der, wo sie steckt. Ich habe das Gefühl, noch einmal mit ihr reden zu müssen.«
Da lächelte sie. Das Glitzern in ihren Augen verriet ihm, dass sie ihm etwas Besonderes mitteilen wollte.
»Das kannst du dir sparen. Seit heute Nachmittag weiß ich es. Sie hat übermorgen Premiere im Münchner Opernhaus. Dafür hat sie uns zwei Karten geschickt.«
*
Daniel litt. Wie auch Nicole versuchte er, jede Erinnerung an die glücklichste Zeit seines Lebens auszuschalten. Manchmal gelang es ihm, meistens nicht. Besonders nachts, wenn die Träume kamen, die ihm vorgaukelten, sie wären immer noch zusammen, würden sich lieben, in denen sie sich die Treue schworen.
Alles nur Worte gewesen, im Rausch der Gefühle dahingesagt, dachte er dann morgens. Was sagten manche Menschen in solchen Situationen nicht alles! Seine vielen Anrufe, seine SMS ignorierte sie. Sie war wieder eingetaucht in ihr Leben, wo immer dies zurzeit auch stattfinden mochte. Heiko Wieland, dessen Nummer er im Internet ausfindig gemacht hatte, blieb verschwiegen. »Nicole hat mir verboten, Ihnen Auskunft zu erteilen«, bekam er als Antwort. Dann gab es wieder Tage, an denen Daniel gewillt war, sich in sein Schicksal zu fügen. Er wusste ja um die Sucht, die Ruhm und Ehre bei manchen Menschen auslösten.
An so manchen Sommerabenden fuhr er hinauf auf ›sein‹ Plateau, legte den Kopf in den Nacken und schaute gen Himmel, als würde er von dort ein Zeichen erwarten. Einen Wink, irgendeinen Hinweis. Etwas, was ihm ein bisschen Hoffnung versprach. Doch dort oben schwebte nur ein blasser Mond. Ab und zu setzte sich eine schwammige Wolke vor ihn. Sonst geschah nichts. Keine verheißungsvolle Sternschnuppe. Dann jedoch brach eine Mauer ein. Dr. Brunner rief ihn an und erzählte ihm von Nicoles Auftritt in München.
Und nun standen sie hier im Foyer, jeder mit einem Glas Sekt in der Hand, Dr. Brunner, seine Frau und er. Sie warteten auf den Beginn der Vorstellung. Seine Hand zitterte leicht. Selbst vor seinen wichtigsten Kämpfen war er nicht so aufgeregt gewesen.
»Es kommt mir fast vor wie eine Fügung des Schicksals, dass du die letzte Karte an der Abendkasse bekommen hast«, sagte Ulrike Brunner mit ihrem warmherzigen Lächeln zu ihm.
»Wo sitzt du?«, fragte ihr Mann.
»In der hintersten Reihe. Was auch besser so ist«, fügte er mit schiefem Lächeln hinzu. »So komme ich wenigstens nicht in Versuchung, Nicole von der Bühne zu zerren und zu entführen.«
Die beiden lachten, aber auch nicht so herzlich, wie man es sonst von ihnen kannte. Der Landarzt machte sich Sorgen um seine Patientin, das sah man ihm an.
»Wir sitzen in der ersten Reihe«, sagte Ulrike Brunner.
»Genau richtig, um als Arzt sofort eingreifen zu können«, meinte ihr Mann in ironischem Ton.
Seine Frau stupste ihn in die Seite. »Nun male aber nicht den Teufel an die Wand.«
»Wie kann sie nur«, murmelte der Landarzt. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass jemand so unverantwortlich mit seinem Körper umgeht.«
Die Glocke erklang, das Zeichen für die Zuschauer, ihre Plätze aufzusuchen.
Ulrike legte Daniel die Hand auf den Arm. »Wir sehen uns gleich in der Pause hier wieder. Okay?« Aufmunternd nickte sie ihm zu.
Dann tauchte das Arztehepaar in dem Menschenstrom unter, der sich auf die Doppeltüren zubewegte.
*
Nicole fror, trotz der dicken weißen Jacke, die sie über ihrem Kostüm trug. Sie saß in ihrer Kabine hinter der Bühne. Die Uhr tickte. Wie eine Bombe, so kam es ihr vor. Ihr erster Auftritt nach ihrem Zusammenbruch. Und sie fühlte sich schlechter denn je. Besser gesagt, sie fühlte gar nichts mehr. Schmerzmittel hatten alle Empfindungen in ihr lahmgelegt. Nur ihr Kopf funktionierte noch. Und dieser fragte sie ständig, warum sie sich das alles in den beiden vergangenen Wochen angetan hatte.
Weil ich für eine Liebesbeziehung nicht geschaffen bin, sagte sie sich zum wiederholten Mal. Ihre Reaktion auf die Szene zwischen Daniel und Katja im Sportgeschäft hatte sie das gelehrt. Eifersucht hatte ihre Seele gemartert, der Verlust des geliebten Mannes ihr Herz in Stücke gerissen. Wenn die Liebe so wehtat, wollte sie lieber ohne sie leben.
Draußen im Saal saßen die Zuschauer. Das Orchester stimmte sich ein. Die leisen Töne drangen in ihren kleinen Raum. Dort draußen würden auch Dr. Brunner und seine Frau sitzen. Oder doch nicht? Die beiden einzigen Menschen, die ihr nicht fremd waren. Alle anderen Besucher verschmolzen für sie zu einer dunklen Masse. Menschen, die wegen ihres tänzerischen Könnens und der Musik gekommen waren, die aber an ihrer Person keinerlei Interesse hatten. So wie Daniel. Katja war ihm wichtiger gewesen und sie für ihn nur eine Freizeitbeschäftigung.
Im Spiegel sah sie, wie sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. Nein, nur nicht weinen. Sie war schon geschminkt.
Die Tür öffnete sich.
»Bist du bereit?«, fragte ihr Tanzkollege mit aufmunterndem Nicken.
Sie nickte und stand auf.
*
Die Musiker saßen bereits auf ihren Plätzen und spielten sich leise ein. Dezentes Gemurmel erfüllte den riesigen Saal, das Rascheln von Abendroben, dann verstummte jedes Geräusch. Der Dirigent erschien, verbeugte sich vor dem Publikum, hob den Taktstock, Musik erklang. Tschaikowskys Schwanensee.
Matthias und Ulrike konnten kaum den Akt erwarten, in dem Nicole die Bühne betreten würde. Und als die Primaballerina schließlich erschien, hielten beide zur gleichen Zeit den Atem an. Ulrike griff nach der Hand ihres Mannes.
»Sie tanzt die passende Rolle, den sterbenden Schwan«, flüsterte sie ihm zutiefst betroffen in ihrer direkten Art zu.
*
Tatsächlich wirkte Nicole nur noch wie ein Schatten ihrer selbst. Um noch einige Kilos leichter als zuvor, fast durchsichtig schwebte sie über die Bühne.
Matthias schluckte. Er schwankte zwischen größter Besorgnis und Zorn.
»Wenn du mich fragst, gehört sie ins Krankenbett und nicht auf diese Bühne«, raunte er zurück.
Er musste an Daniel denken, der viele Reihen hinter ihnen saß. Wie mochte er Nicoles zerbrechliche Erscheinung empfinden? Wenn ihr Gesicht im Scheinwerferkegel zu sehen war, konnte man die dunklen Schatten unter ihren Augen erkennen, trotz der Schminke. In dem schmalen Gesicht wirkten ihre Augen noch größer, ihre Wangenknochen traten