»Wie sieht’s im Wartezimmer aus?«, wandte er sich an Schwester Gertrud.
»Dort herrscht eine rege Diskussion über die bevorstehenden Gemeindewahlen«, erwiderte die ältere Frau. »Ich schlage vor, Sie widmen sich zuerst einmal dieser Patientin hier.« Zwinkernd zeigte sie auf Ulrike, welche ihr einen dankbaren Blick zuwarf.
»Was ist los?«, fragte Matthias, nachdem er die Sprechzimmertür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Nicole hat sich von mir verabschiedet. Ich soll dich herzlich grüßen, und sie bittet uns um Verzeihung.«
Ungläubig sah er sie an. Dann schüttelte er mit verständnisloser Miene den Kopf. »Das Ganze bitte noch einmal langsam und der Reihe nach.«
»Hier, lies.« Sie reichte ihm den Brief, den Nicole ihr beim Abschied in die Hand gedrückt hatte.
Matthias faltete den Bogen auseinander und las laut vor: »Leider habe ich die falsche Entscheidung getroffen, als ich mich gegen meine Tanzkarriere entschieden habe. Es ist jedoch noch früh genug, diese rückgängig zu machen. Ich will weiterhin für meinen Beruf leben. Ein anderes Leben, ein Familienleben, kann ich mir nicht vorstellen. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Gastfreundschaft, Ihr Bemühen, mir zu helfen, aber es gibt Menschen, denen ist nicht zu helfen. Zu denen mag ich auch gehören.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und beneide Sie um Ihr Glück. Nicole«
»Ich kann das gar nicht glauben«, sagte Ulrike aufgeregt. »Das ist doch Wahnsinn. Wie kann sie jetzt schon wieder tanzen wollen? Sie ist doch noch gar nicht wieder gesund.«
Matthias ließ sich in den Sessel sinken. Seine Frau setzte sich auf dessen Lehne und legte den Arm um seine Schultern. Sie brauchte jetzt seine Wärme, die sie stets als tröstend empfand, wenn sie so durcheinander war wie jetzt.
»Was hat Nicole denn gesagt, als sie sich von dir verabschiedet hat?«, fragte Matthias.
»Das, was ich dir gerade erzählt habe. Dann hat sie mir den Brief in die Hand gedrückt mit den Worten, da würde alles drinnenstehen. Sie hat mich umarmt und weg war sie. Ich sah nur noch die Staubwolke ihres Wagens.«
»Das klingt ja fast nach einer Flucht.«
»So kam es mir auch vor.«
»Vielleicht hatte sie Angst, ich würde ihr ihren Plan weiterzutanzen auszureden versuchen.« Matthias lachte hart auf. »Was ich ja auch getan hätte. Sie ist verrückt, wenn sie sich in ein paar Tagen wieder auf die Bühne stellt. Das kann nur im Fiasko enden.«
Ulrike rutschte von der Lehne. »Wir müssen Thorsten informieren. Vielleicht kann er auf Nicole einwirken.«
Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe fast den Eindruck, Nicole wird getrieben von einer Sucht. Oder sie hat etwas erlebt, das sie kopflos gemacht und aus Ruhweiler fortgetrieben hat.«
»Daniel?« Ulrike sah ihn an.
Matthias hob die Schultern. »Ich habe Daniel gestern noch im Ort getroffen. Er machte einen sehr glücklichen Eindruck. Und Nicole eigentlich auch, als sie hier in der Praxis war. Ganz stolz hat sie mir den Ring gezeigt, den er ihr geschenkt hat.«
Ulrike fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die blonden Locken. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und stieß die Luft scharf aus.
»Puh«, murmelte sie. »Ich bin ziemlich geschockt. Das kannst du mir glauben. Dass sie auch Daniel einfach so aufgegeben hat. Wie mag er sich jetzt fühlen?«
Diese Frage bekam sie ein paar Lidschläge später beantwortet. Es klopfte an der Tür und Schwester Gertrud schob ihren grauen Kopf herein.
»Herr Geißle besteht darauf, Sie zu sprechen«, sagte sie mit ihrer tief klingenden Stimme zu ihrem Chef. »Obwohl ich ihm eindeutig gesagt habe, dass hier alles der Reihe nach geht, will er nicht warten. Er sagt, es wäre ein Notfall.«
»Das ist es auch, Gertrud«, erwiderte der Landarzt mit mattem Lächeln. »Schicken Sie ihn rein.«
»Aber …« Empörung wollte sich auf dem rotwangigen Gesicht der resoluten Helferin kundtun, die von den Patienten als ›Praxisdrache‹ bezeichnet wurde. Doch Matthias machte mit einer einzigen Geste einer beginnenden Diskussion ein schnelles Ende. »Herr Geißle bitte, Schwester Gertrud.«
*
»Herr Doktor, kann ich Sie und Ihre Frau einen Moment sprechen?« Daniel hörte selbst, wie aufgeregt er klang. »Es ist wirklich sehr wichtig für mich. Hier, lesen Sie einmal.« Er reichte dem Landarzt Nicoles Brief. »Wissen Sie mehr als ich, mehr, als Nicole geschrieben hat? Ich meine, Sie kennen sie doch auch, und vielleicht hat sie Ihnen gegenüber etwas erwähnt, das sie mir in diesem Brief verschweigt. Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen …«
Dr. Brunner führte ihn zu dem Patientenstuhl. Dann setzte er sich ihm gegenüber, seine Frau ließ sich auf den Rand der Behandlungsliege sinken. Daniel hatte den Eindruck, dass beide ziemlich betroffen aussahen. Wussten sie auch schon von Nicoles plötzlichem Abschied?
Der Landarzt warf einen Blick auf die Zeilen und sagte dann erstaunt: »Nicole hat uns den gleichen Brief geschrieben. Mit genau demselben Inhalt.« Er hob den Kopf und sah ihn an. »Meine Frau und ich haben gerade darüber gesprochen und sind gleichermaßen überrascht wie auch beunruhigt, dass Nicole eine solche Entscheidung getroffen hat.«
Daniel fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Immer noch fühlte er sich, als hätte er einen Fausthieb in den Magen bekommen. Der Schmerz war so gewaltig, dass ihm das Atmen schwerfiel.
»Damit habe ich nicht gerechnet«, murmelte er vor sich hin.
Wirklich nicht?, fragte da eine Stimme in ihm ganz leise an. Hatte er sich nicht schon Gedanken darüber gemacht, wie Nicole das Ende ihrer Karriere verkraften würde?
Der Landdoktor räusperte sich. »Nicoles Entschluss weiterzutanzen kann ich als ihr behandelnder Arzt natürlich nur als fatalen Fehler beurteilen, aber vielleicht war ihre Entscheidung, von der Bühne abzutreten, noch nicht reif genug. Ihr Körper zwingt sie ihr auf, und sie sollte auch unbedingt auf ihn hören. Wie wir jedoch jetzt sehen, tut sie es letztendlich nicht. Ich kann sie nicht zwingen, mit dem Tanzen aufzuhören.«
Die Worte des Arztes leuchteten ihm ein. Er wusste ja aus seiner Vergangenheit, dass es Hochleistungssportler gab, für die der Sport zur Sucht wurde.
»Aber was ist mit unserer Beziehung?«, sprach er seinen nächsten Gedanken laut aus. »Ich hatte gedacht, unsere Liebe wäre für sie wichtiger als ihre Karriere.«
Matthias Brunner wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau, einen einverständlichen Blick. Er drückte aus, dass die beiden keine Worte brauchten, um sich zu verständigen. Und in diesem Moment empfand er den Verlust der geliebten Frau als noch unerträglicher. Wie sehr hatte er sich gewünscht, mit Nicole eine ebensolche Ehe zu führen. Seite an Seite auf Augenhöhe miteinander, und dennoch eins werden.
Der Landarzt sah ihn lange an. »Nicole hat dich kennengelernt in einer Phase, in der ihr Beruf eine geringere Stellung in ihrem Leben eingenommen hatte als vorher. Zwangsweise jedoch, nicht freiwillig. Ihr habt euch ineinander verliebt, habt entdeckt, dass euch vieles verbindet. Das ist ja alles sehr schnell gegangen. Womöglich …«
»Es ist deshalb so schnell gegangen, weil es Liebe auf den ersten Blick zwischen uns war«, unterbrach er ihn in aufgeregt klingendem Ton. Die Sätze kamen ihm wie von selbst von den Lippen. »Ich musste nicht mehr lange überlegen, um sicher zu sein, dass ich sie und keine andere Frau an meiner Seite haben will. Und Nicole hatte mir bestätigt, dass es bei ihr genauso war. Warum verlässt sie mich jetzt? Warum diese Ausschließlichkeit? Entweder Karriere