Er sah den Landarzt an. »Was soll ich jetzt machen?«
Dieser erwiderte seine Frage mit einem milden Lächeln und sagte dann: »Ich glaube, du weißt genau, dass du gar nichts machen kannst. Du kennst die Qual, eine so wichtige Entscheidung zu treffen wie die, seinen Beruf aufzugeben. Du kennst die Zweifel, die einen bedrücken, ob man richtig entschieden hat. Du fragst mich um Rat, und ich sage dir: Gib Nicole noch Zeit. Womöglich ging für sie alles zu schnell. Und manchmal trifft das Leben ja auch selbst eine Entscheidung. Wie bei dir, durch den Tod deines Kollegen. Vielleicht kommt Nicole zurück, weil sie erkennt, dass sie ohne dich nicht leben kann.« Ihn traf ein langer ernster Blick aus den graublauen Augen des Arztes. »Glaube mir, meine Frau und ich machen uns große Sorgen um Nicole, aber aus meiner Berufs- wie auch aus meiner Lebenserfahrung weiß ich, dass man manchmal eben doch nicht helfen kann. In solchen Fällen nimmt dann das Schicksal die Zügel in die Hand, und seine Entscheidung sollte man annehmen.«
*
So weit war Nicole noch nicht, dass sie dem Schicksal eine Entscheidung hätte überlassen wollen. Aus enttäuschter Liebe, zerstörtem Vertrauen zu dem geliebten Mann und dem Wissen, dass sie mit ihrer brennenden Eifersucht nicht würde umgehen können, rüstete sie seelisch wie auch körperlich auf. Nachdem sie in Zürich angekommen war, rief sie Heiko Wieland an.
»Du bist wieder in Zürich?«, wunderte sich der Agent.
»Woher weißt du das?«, fragte sie erstaunt.
Er lachte dröhnend durch die Leitung. »Ich sehe es an deiner Nummer auf dem Display meines Telefons.«
»Natürlich«, murmelte sie, während sie sich mit zitternder Hand über die Stirn strich.
»Löst du dein Apartment auf?«
»Im Gegenteil. Ich werde es fortan wieder bewohnen«, entgegnete sie.
Heiko schwieg, was er selten tat. Dann sagte er: »Hatte ich also recht?«
Sie wusste genau, was er meinte.
»Ja.«
Wieder ein paar Sekunden Schweigen von seiner Seite. Dann: »Das tut mir leid. Wirklich, das meine ich jetzt ernst.«
Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschluchzen. Nein, nicht an Daniel denken, befahl sie sich. Jetzt musste sie nur vorwärts schauen. Die Tage in Ruhweiler waren unwirklich gewesen. Es hatte sie gar nicht gegeben. Das Paradies gab es eben nicht auf Erden.
»Heiko, ich brauche ein neues Engagement«, sagte sie geradeheraus.
»Bist du denn körperlich schon wieder so weit?«
Sie lachte hart auf. »Danach hast du doch sonst auch nie gefragt.«
Wieder Schweigen in München, wo Heikos Agentur ansässig war.
»Stimmt.« Heiko lachte ebenfalls, genauso hart und kurz. »Was vielleicht falsch war. Aber gut.« Sie hörte, wie er an der Zigarette zog, den Rauch geräuschvoll ausstieß. »Ich habe eine Nachfrage für dich hier in München. Du müsstest kurzfristig einspringen. In zwei Wochen ist Premiere. Schaffst du das?« Er klang besorgt, eine ganz neue Saite an ihm.
Sie griff sich an die Schläfe, dorthin, wo ihr Puls hämmerte.
Natürlich nicht, sagte ihr ihr Verstand.
»Ja«, erwiderte die Verzweiflung in ihr. »Hast du ein paar Aufbaupräparate für mich? Und die neuen Schmerztabletten aus USA? Dr. Brunner aus Ruhweiler wird mir diesbezüglich mit Sicherheit nicht helfen.«
Heiko schwieg wieder ungewöhnlich lange.
»Ich weiß nicht, Nicole«, meinte er dann. »Ein gutes Gefühl habe ich dabei nicht. Du musst auch nicht mir zuliebe einspringen. Ich habe ja eigentlich schon eine andere Tänzerin in Aussicht, die das machen will.«
»Sag mir zuliebe der anderen ab«, sagte sie entschlossen. »Ich brauche die Arbeit.« Sie schluckte und fügte hinzu: »Danke, Heiko, und ciao.«
Es waren die letzten Worte, die sie mit halbwegs fester Stimme auszusprechen vermochte. Dann überwältigten sie die Tränen.
*
Heiko Wieland stimmte schließlich zu, mit zwiespältigen Gefühlen. Er wollte Nicole helfen, wusste jedoch auch, dass er ihr mit dieser Zusage gleichzeitig schaden würde. Vielleicht sogar sich selbst und seiner Agentur, wenn sie erneut einen Zusammenbruch erleiden würde, was er sich jedoch lieber gar nicht erst vorstellen wollte. Er wusste um ihr einzigartiges Talent, um ihre beispiellose Disziplin, ihren eisernen Willen und ihre Bereitschaft, über ihre Grenzen hinweg zu gehen. Selbst in ihrem gegenwärtigen körperlichen Zustand würde sie immer noch besser sein als jede andere Primaballerina.
Während Heiko Wieland nach dem Telefonat diese Gedanken beschäftigen, fühlte sich Nicole schon etwas besser. Hilfe war in Aussicht, Hilfe gegen diesen Schmerz im Herzen, der jeden anderen körperlichen, den sie bisher empfunden hatte, noch bei Weitem übertraf.
*
Nicole war sich dessen bewusst, als ein anderer Mensch nach Zürich zurückgekommen zu sein. Am Abend ihrer Rückkehr ließ sie die Erinnerungen an ihre Zeit in Ruhweiler noch einmal zu. Die Erinnerungen an Daniels einzigartiges Lächeln, den intensiven Blick seiner braunen Augen, an die Berührung seiner Lippen, die ihre liebkost hatten, das flüchtige und doch deutliche Gefühl seines Atems auf ihrem Gesicht, wenn sie neben ihm gelegen hatte, seine Hände, die so zärtlich sein konnten. Sie steigerte sich in all diese Erinnerungen hinein, immer wieder und wieder, als würde sie sich trainieren wollen. Sie hoffte, wenn sie all diese aushalten würde, dann würde sie auch die kommende Zeit überstehen können, in der sie wieder allein war. So furchtbar allein.
In dieser Nacht erlaubte sie sich noch einmal, ins Paradies zurückzureisen. Am nächsten Morgen wusch sie sich die Augen mit eiskaltem Wasser, nahm ihren Koffer und fuhr nach München.
*
Die Arbeit tat Nicole gut, zumindest ihrer geschundenen Seele. Mit ihren körperlichen Schmerzen konnte sie besser umgehen als mit denen ihres Herzens. Nicht weil es gegen sie Tabletten gab, sondern auch, weil sie sie kannte und als Profitänzerin eine höhere körperliche Schmerzgrenze besaß als andere Menschen.
Von frühmorgens bis spätabends stürzte sie sich in die Arbeit. Erst wenn sie in dem kleinen Hotelzimmer ins Bett fiel, zerrissen die Erinnerungen an den geliebten Mann wieder ihr Herz. Jeden Tag rief Daniel mehrmals auf ihrem Handy an. Sie hatte sich inzwischen ein neues Funktelefon gekauft, konnte sich jedoch nicht beherrschen, auf dem alten täglich die Anrufe zu kontrollieren. Sie fand auch mehrmals die Nummer der Brunners in der Anruferliste und bekam immer ein schlechtes Gewissen, dass sie sich bei dem Arztehepaar nicht meldete. Sie hatte Angst, die Leitung zu den beiden zu öffnen, Angst davor, zusammenzubrechen. Sie musste jetzt auf ihrer Linie bleiben, bis die Wunden, die Daniel ihr geschlagen hatte, ein bisschen verheilt waren.
So rückte die Premiere immer näher, und Nicole spürte, wie ihre Kraft trotz Vitamine und Aufbaumittel immer mehr dahinschwand. Jeden Tag kämpfte sie gegen dieses Wissen erneut an. Das Lob des Ballettdirektors spornte sie ebenso an wie die Bewunderung ihrer Kolleginnen. Aber all diese Ehren konnten die Leere in ihrem Innern, die der Verlust Daniels hinterlassen hatte, nicht ausgleichen. Genauso wenig die Freude und der Zuspruch ihrer Mutter, die glücklich war, dass ihre Tochter wieder auf den richtigen Weg zurückgefunden hatte. Nicole verschwieg ihr, wie es dazu gekommen war. Oft dachte sie an Marianne Geißle, Daniels Mutter. Wie gut sie sich mit ihr verstanden hatte. Sie hatten sich nur wenige Male gesehen, aber von Anfang an hatte auch zwischen ihnen diese Seelenverwandtschaft bestanden wie zu Daniel. Vorbei. Alles vorbei. Nie gewesen.
Drei Tage vor der Premiere tat Nicole dann etwas, was ihr Leben erneut in andere Bahnen werfen sollte.
*
»Und? Wie war dein Nachmittag?«, fragte Ulrike ihren Mann, als Matthias den Hausflur betrat.
Lump