An diesem Tage, dem vierzehnten des August und dem fünfzehnten des Musa Dagh, schien Gonzague Maris ein ganz andrer zu sein als sonst. Juliette hatte ihn noch nie so traurig gesehn, so knabenhaft melancholisch, so ziellos beschattet. Seine Augen – in denen keine Weite lag, selbst wenn sie ins Weite sahen – ließ er, wie Juliette annahm, ins Endlose schweifen. In Wirklichkeit aber richtete er seinen Blick auf einen ganz bestimmten Punkt, der freilich durch eine vorgelagerte Bergnase verdeckt war. Seine Gedanken suchten die Mündungsebene des Orontes mit den großen, in der Sonne blitzenden Gebäuden der Spiritusbrennerei. Juliettens Frage, die ihrem, nicht seinem Zustand entsprach, war daher sehr verfehlt:
»Haben Sie Heimweh, Gonzague?«
Er lachte kurz auf, und sie verspürte beschämt den peinlichen Unsinn ihrer Worte. Sie gedachte seines Lebenslaufes, den ihr Gonzague in einigen Bruchstücken mit leicht wegwerfender Ironie erzählt hatte, als sei er daran nur halb und nicht einmal mit seinem besten Wesensfragment beteiligt. Der Vater, ein Bankier in Athen, hatte eine französische Gouvernante zu seiner Mutter gemacht. Als das Kind noch nicht vier Jahre alt war, kam es zu einer Katastrophe. Papa entwischte nach Amerika und ließ die Mutter mit Kind und ohne Geld zurück. Mama aber, die für den Durchgeher noch immer Liebe empfand, reiste unter großen Schwierigkeiten mit dem kleinen Gonzague hinüber. Dort gelang es ihr zwar nicht, den richtigen Mann stellig zu machen, doch bei der Jagd fand sie schließlich einen andern. Es war ein älterer Schirmfabrikant aus Detroit, der Mama heiratete und den Knaben adoptierte. »Ich kann deshalb«, gestand Gonzague, »mit vollem Rechte zwei Namen verwenden. Aber ich finde, daß der Name Gonzague MacWawerley bei meinem Äußeren sehr unwahrscheinlich klingt, ich bleibe deshalb bei Maris.« Er begründete diese Namenswahl mit großem Ernst. Der armen Mutter Gonzagues war in der Ehe mit dem Schirmfabrikanten kein dauernder Segen beschieden. Die Gemeinschaft wurde getrennt, sie mußte das Haus in Detroit verlassen, und Gonzague wanderte von Internat zu Internat, bis er fünfzehn Jahre alt war. Um diese Zeit lernte er durch Schicksalsfügung seinen wahren Vater kennen, der es wieder zu einem bescheidenen Vermögen gebracht hatte. Der alte Mann kämpfte mit Gewissensbissen, da Gonzagues Mutter auf der Armenabteilung eines New-Yorker Hospitals gestorben war. Er schickte den Sohn mit etwas Geld nach Athen zu seinen Verwandten. Von den nächsten Jahren erzählte Gonzague nur in der trockensten Kürze. Sie seien weder gut noch schlecht und schon gar nicht interessant gewesen. Erst sehr spät, nach einer elenden Kindheit und abscheulichen Jugend, habe er sich in Paris selbst gefunden; das heißt, er habe in sich einige mäßige und recht gewöhnliche Gaben entdeckt, mittels deren er jedoch immerhin befähigt sei, sich durch die Welt zu schlagen. Seit Jahren lebe er in der Türkei, nachdem er durch die Hilfe väterlicher Verwandten den Weg nach Stambul und Smyrna gefunden habe. In Stambul bediene er die Korrespondenten amerikanischer Zeitungen mit Berichten und Lebensschilderungen aus der inneren Türkei. Er studiere aber auch, wenn es ihm nicht gerade glänzend gehe, bei kleinen italienischen Operngesellschaften und Wiener Operettentruppen die Chöre ein. Zuletzt habe er sich sogar einem Kabarett-Manager aus Pera als Klavierbegleiter verdungen, um bei der Kunstreise eines Häufleins abgetakelter Chansonetten und Tänzerinnen in der dunkelsten Türkei mitzuwirken.
Dies alles klang völlig wahrhaftig. Was hätte auch an all den trüben und banalen Dingen erlogen oder aufgeschnitten sein sollen? Gonzague hatte diesen dürftigen Abriß seiner Lebensschicksale so nachlässig zu Worte gebracht, als stünden sie tief unter ihm, als seien sie die niedrige Voraussetzung für sein eigentliches Leben, von dem nur seine Augen sprachen, wenn sie auf Juliette lagen. Sie glaubte an die Wahrheit des Erzählten, und dennoch kam es ihr auswechselbar vor. Eine Sekunde lang durchzog sie der Argwohn, daß Gonzague wahrscheinlich für jede Frau jeweils eine andre, aber ebenso farblose Vergangenheit besitze.
»Wie viele Frauen«, forschte sie, »waren bei der Künstlertruppe, die Sie bis Alexandrette begleitet haben?«
Die Erinnerung an diese Truppe schien für ihn so lästig zu sein, daß er die Frage fast mürrisch beantwortete:
»Achtzehn oder zwanzig werden es gewesen sein.«
»Es waren doch gewiß auch junge und hübsche darunter. Ist Ihnen eine nahegestanden, Gonzague?«
Er schüttelte eine solche Zumutung erstaunt ab:
»Artisten führen ein ernstes und nüchternes Leben. Und für Kokotten bedeutet die Liebe eine Arbeitsleistung, die sie nicht überflüssig verschwenden.«
Juliettens Neugier gab so schnell nicht nach:
»Sie haben sich einige Monate lang in Alexandrette aufgehalten. In einer kleinen schmutzigen Hafenstadt ...«
»Alexandrette ist gar nicht so lächerlich wie Sie meinen, Juliette, es gibt dort einige sehr kultivierte armenische Familien mit schönen Häusern in großen Gärten ...«
»Ach so, ich verstehe, eine dieser Familien war der Grund Ihres langen Aufenthaltes ...«
Gonzague leugnete nicht, daß er für eine junge Dame in Alexandrette Neigung gefaßt und daher seinen Vertrag mit der Varieté-Gesellschaft gebrochen habe. Juliette sah merkwürdigerweise bei Erwähnung jener Dame Iskuhi vor sich, doch aufgeputzt, geschminkt und mit Schmuck behangen, was zu ihrem Bild ja gar nicht paßte. Gonzague enthielt sich jeder weiteren Schilderung seines Erlebnisses und erklärte, die Geschichte sei ein Irrtum gewesen und nun versunken und vergessen. Nur einen einzigen Zweck habe sie gehabt, ihm über Beilan den Weg nach Yoghonoluk zu weisen, den Weg in die Villa Bagradian.
Wenn Juliette das Sein und Haben Gonzagues überdachte, so kam ihr die eigene Verlorenheit nicht mehr so grausam vor. Gab es ein raffinierteres Nirgendhingehören als das seine? Wie unter einem Glassturz von Öde und Liebesverlassenheit saß er traurig neben ihr. Er hatte sich entschlossen, an Juliettens Todesschicksal bescheiden teilzunehmen, ohne Wimperzucken, ohne Dank zu fordern, als handle es sich nur um eine kleine Galanterie, die nicht der Rede wert ist. Und dabei hatte Gonzague noch hunderttausendmal weniger hier zu suchen als Juliette. Wie störte sie das Wort »nostalgie«, das sie vor einer Weile ausgesprochen hatte! Wonach sollte dieser Arme denn Heimweh empfinden? Vor seinen Blicken lag nur das Leere. Jetzt begriff Juliette, warum der junge Mensch, der sich eines mikroskopischen Gedächtnisses rühmte, gar keine oder auswechselbare Erinnerungen hatte. Dieser junge Mensch, der ihr mit angespannter Zurückhaltung so viel liebende Sorgfalt erwies, hatte selbst niemals Liebe empfangen. Knabenhaft saß er neben ihr auf einem glatten Felsblock, ganz dicht, von der Schulter bis zum Knie; doch er berührte sie nicht, er ließ noch immer eine Ahnung von leerem Raum zwischen sich und ihr. Dieser messerscharfe Abstand der Tugend und Selbstüberwindung brannte fast. Gonzague schwieg. Doch in Juliettens Herzen ging ein sehr gefährliches süßes Mitleid auf. »Gonzague«, fragte sie und erschrak vor dem Gesang in ihrer Stimme. Langsam wandte er sich ihr zu. Es war wie Bestrahlung. Sie nahm leise seine Hand. Nur um sie zu streicheln. Doch dann konnte sie nicht anders. Ihr Gesicht, ihr Mund schob sich vor. Auch Gonzagues Augen erloschen. Eine letzte wartende Aufmerksamkeit verzuckte in ihnen, dann starb der Blick. Er ließ Juliette ganz nahe kommen, ehe er sie mit einem plötzlichen Ruck an sich riß. Sie wimmerte leise unter seinem Kuß. Die Jugend der treuen Frau war vorübergegangen und sie hatte nicht erfahren, wieviel fremde Wollust in ihr erweckbar war. Sofort aber entstand ein Schmerz, der ihr den Kopf zersprengen wollte. Es war der gleiche, beinahe hypnotische Kopfschmerz wie damals, als Gonzague das erstemal im Empfangszimmer von Yoghonoluk so düster Klavier gespielt hatte. Sie stieß den Mann zurück, um ihre Abwehrkräfte zu sammeln. Ein Gedanke wuchs auf: Nicht er hat meine, sondern ich habe seine Hand genommen. Nun bin ich in seiner Hand. Hinter diesem Gedanken schoß ein zweiter höher: Er hat mich seit Wochen mit voller Absicht so weit gebracht, damit ich die Schuldige sei. Im nächsten Augenblick flossen die Abwehrkräfte in sich zusammen, denn Gonzague hielt Juliette an seine Brust gepreßt und küßte sie wieder. Die Kopfschmerzen zergingen in unerträgliches Glück. Purpurne Finsternis, und fern in ihr ein letzter dünner Lichtspalt des Entsetzens: Ich bin verloren. Denn jetzt erst, in seinen Küssen, wurde dieser verhaltene junge Mensch, dieser zart dienende Begleiter, zu dem wahren Gonzague: Nicht mehr ein adrettes Kind des Nichts, sondern eine ungeahnte Kraft, glücklich und unglücklich zu machen. Sein Mund sog aus ihr das Geheimnis, das sie selbst nicht kannte, beseligend und rachsüchtig.
Er ließ sie erst los, als das furchtbare Schreien anhob. Sie fuhren erschrocken